Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Wir kommen heute hier in dieser Kirche zusammen, um der Schlacht bei Sempach vom 9. Juli 1386 zu gedenken. 1386 – Das ist ganz offensichtlich schon eine Weile her. Und so mag sich der eine oder andere vielleicht doch fragen, warum wir heute hier sind, 638 Jahre nach der Schlacht. Was bedeutet uns dieses Ereignis noch, das so lange zurückliegt? Wofür eine Gedenkfeier, wo wir doch nun in einer so ganz anderen Zeit leben?
Ich persönlich bin gekommen, weil mich Ihre Einladung geehrt und gefreut hat. Weil Luzern in unserem Land zu den ganz wichtigen Kantonen zählt. Und weil Sempach so schön gelegen und nur schon die Fahrt hierhin an einem Junimorgen prächtig ist. Vielen Dank also, dass ich heute hier bei Ihnen sein und einige Worte an Sie richten darf.
Aber das ist natürlich nicht einmal die halbe Antwort – Es geht nicht um einen Ausflug an einem Sonntagmorgen; es geht nicht um meine Befindlichkeit. Da muss mehr sein. Und da ist mehr:
Sie pflegen dieses Gedenken seit Jahrhunderten, weil wir alle immer wieder spüren, dass wir auf Früherem aufbauen; dass unser Erfolg nicht allein unsere Leistung ist, sondern auch die unserer Vorfahren. Das hat mit Demut zu tun. Und mit Dankbarkeit.
Sempach als Sinnbild
Es ist ja in gewissen Kreisen Mode geworden, über unsere Geschichte möglichst streng zu urteilen, überall Fehler zu suchen und alles und jedes zum blossen Mythos zu erklären.
Wenn wir Sempach hören, dann denken wir an Arnold von Winkelried und den ihm zugeschriebene Ausspruch «Ich will Euch eine Gasse machen». Jetzt mag es historische Zweifel geben, ob es Winkelried überhaupt gab. Und wenn, ob er sich tatsächlich in die Phalanx der feindlichen Spiesse geworfen und so für die Freiheit geopfert hat, wie es überliefert ist.
Ich möchte mich jetzt natürlich nicht in einen historischen Fachstreit einmischen, der bis ins vorletzte Jahrhundert zurückreicht.
Stattdessen möchte ich einige grundsätzliche Gedanken mit Ihnen teilen, was uns Geschichte bedeutet. Warum die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt. Weshalb das Gestern unser Heute prägt.
Die Schlacht bei Sempach ist ein hervorragendes Beispiel dafür; ich sehe Sempach als Sinnbild für wichtige Eigenheiten und Wesenszüge unseres Landes. Ich will drei davon hervorheben: Zuerst einige Worte dazu, wie die Schweiz von unten nach oben gewachsen ist. Zweitens etwas zu unserem Erbe, das wir von den Generationen vor uns übernehmen durften. Und abschliessend spreche ich Freiheit und Eigenständigkeit an – das Motiv der Schlacht darf ja nicht fehlen.
Die Schweiz – von unten nach oben gewachsen
Wir unterscheiden uns von andern Ländern durch unsere Entstehung; die Schweiz ist von unten gewachsen, hat sich aus Talschaften und Städten wie Sempach und Luzern entwickelt. Die Schlacht von 1386 zeigt uns das wunderschön:
Zwei Namen sind uns bis heute geläufig – auf der Seite der Habsburger haben wir den adligen Herrscher und Heerführer, Leopold III. von Österreich, auf der Seite der Eidgenossen dagegen einen Mann aus dem Volk, einen tapferen Kämpfer, einer aus dem Heer, einer aus dem Haufen, wie man damals sagte, einer, der in der Not hervortritt und im entscheidenden Augenblick die Schlacht wendet. Leopold und Winkelried, beide stehen für eine Staatsidee – und der Kontrast könnte nicht grösser sein.
Was sagt uns das über die Schweiz?
Es kommt bei uns nicht auf das hohe Amt, die wichtige Stellung, die edle Geburt an, sondern auf die Leistung, den Einsatz, das beherzte Tun.
Die Schweiz entsteht als das Land, das sich von unten, vom Volk her organisiert. In dem die Leute aus dem Volk die Verantwortung tragen, in dem sie das Schicksal selbst in die Hand nehmen. Darum spielt es meiner Meinung nach auch keine so grosse Rolle, ob es Winkelried gegeben hat. Vielleicht ist er auch einfach nur eine Symbolfigur für all die Gefallenen aus dem gewöhnlichen Volk, die mit ihrem Tod die Freiheit retteten. Kann ja sein – aber das schmälert den Erfolg von damals nicht. Denn was die Eidgenossen in dieser schwierigen Schlacht alle gemeinsam erreicht haben, den Erhalt der Freiheit, das ist kein Mythos, sondern Tatsache.
Die Kraft kam und kommt bei uns nicht von einer hohen Elite, sondern aus dem Volk. Das bestimmt unseren Staatsaufbau bis heute: Wir sind dieser historische Sonderfall, der von unten nach oben gewachsen ist; die aktive, engagierte Bürgerschaft steht bei uns im Vordergrund, während die meisten anderen Länder von einer monarchischen und hierarchischen Tradition geprägt sind.
Dieser grundsätzliche Unterschied besteht nach wie vor: Vergleichen wir zum Beispiel die Präambel des wichtigsten EU-Grundlagenvertrages, des Vertrages von Lissabon, mit der Präambel unserer Bundesverfassung:
Der Vertrag von Lissabon beginnt mit einer Aufzählung aller Staatsoberhäupter: «Seine Majestät der König der Belgier, der Präsident der Republik Bulgarien, der Präsident der Tschechischen Republik, Ihre Majestät die Königin von Dänemark usw…»[1]
Bei uns beginnt die Verfassung mit: «Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone (…) geben sich folgende Verfassung: …»
Da haben wir wieder diesen Kontrast der Staatsideen, wie bei Leopold und Winkelried. Die Organisation von oben versus die Organisation von unten.
Verschiedener können Staatsauffassung kaum sein; und diese fundamentalen Unterschiede bestimmen Staatsorganisation und Gesetzgebung, ziehen sich durch Regulierung und Rechtsprechung – wie wir gerade vor ein paar Wochen in einem Urteil des EGMR gegen die Schweiz wieder mit Irritation feststellen mussten.
Auch darum sollten wir immer sehr genau prüfen, welche Regulierung internationaler Organisationen wir übernehmen. Die meisten passen schlicht nicht zu unserer freiheitlichen, direktdemokratischen Staatsform.
Die Schweiz als Erbe
Das bringt mich zum nächsten Punkt: Die Schweiz ist ein Erbe. Generationen haben es an die nächste Generation weitergegeben. Auch daran erinnert diese Feier heute.
Nun liegt das Erbe in unserer Hand. Wir haben zu entscheiden, was wir damit tun. Seit Sempach mögen 638 Jahre vergangen sein. Aber die Fragen von damals haben sich in all den vielen Jahrhunderten in unterschiedlichen Formen immer wieder gestellt:
Was ist uns unsere Freiheit wert? Sind wir bereit, sie zu verteidigen, für sie zu kämpfen? Wollen wir unser Erbe weitergeben? Viele vor uns mussten diese Fragen angesichts von Kriegen beantworten.
Wir sind da in einer vergleichsweise glücklichen Lage. Zwar kommen die Kriege wieder näher. Und auch wir dürfen nicht mehr länger vom ewigen Frieden träumen. Wir müssen grosse Anstrengungen unternehmen, um unsere Armee wieder so auszurüsten, dass sie unser Land im Ernstfall verteidigen kann.
Aber die Freiheit wird nicht nur durch fremde Armeen bedroht. Darum stellt sich die Frage nicht nur militärisch, sondern auch politisch – in verschiedensten Schattierungen. Manchmal scheint mir fast, unser grosser Erfolg, unser grosser Wohlstand hätten zu einer Gleichgültigkeit geführt, ja fast zu einem Überdruss an all dem, was diesen Erfolg überhaupt erst möglich gemacht hat.
Freiheit und Eigenständigkeit
Damit komme ich zurück auf die Schlacht bei Sempach: Der Sempacherkrieg war die entscheidende Auseinandersetzung zwischen den eidgenössischen Stadt- und Talgemeinden einerseits und dem habsburgischen Adel andererseits.
Der Sieg der Eidgenossen und die habsburgische Niederlage erregten damals weit herum Aufsehen. In der österreichischen Geschichtsschreibung galt sie als Untat rebellischer Untertanen gegen ihren rechtmässigen Herrn.
Die Schlacht von Sempach zeigt uns beispielhaft, was gegen alle Wahrscheinlichkeit möglich ist: Da erheben sich städtische Untertanen und Bauern gegen die Obrigkeit, besiegen eine der besten und modernsten Armeen der Zeit und etablieren ein Staatswesen, das radikal anders organisiert ist, als was man ansonsten in dieser Zeit kennt. Die Schweiz ist so als freiheitliche Antithese zum Obrigkeitsstaat entstanden – und erwies sich als Erfolgsmodell!
Mut zur Freiheit und Unabhängigkeit braucht es nicht nur im Krieg, nicht nur in der Schlacht. Sondern auch, wenn es darum geht, als Land seinen eigenen Weg zu gehen. Manchmal auch im Widerspruch zum Umfeld. Manchmal auch im Widerspruch zum Zeitgeist.
Hätten unsere Vorfahren aufs Ausland geschielt, hätten sie dem Zeitgeist gehorcht und stets übernehmen wollen, was gerade Mode ist, gäbe es die Schweiz heute nicht. Für mich ist die Geschichte des Sempacherkrieges darum ein zeitloses Plädoyer für mutige Eigenständigkeit. Gegen Gleichgültigkeit, gegen Mutlosigkeit und gegen Überdruss an der Freiheit.
In diesem Sinne schliesse ich mit dem Dank an die Generationen vor uns, die uns ein freies Land als Erbe überlassen haben und mit dem Dank an alle, die sich weiterhin für unsere Freiheit und für eine eigenständige Schweiz einsetzen!