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Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union: Positionsbezug von Pro Schweiz im Rahmen der Konsultationen

Wir sind erstaunt, dass Pro Schweiz als grösste ausserparlamentarische und überparteiliche Organisation für die Unabhängigkeit, Neutralität und Sicherheit der Schweiz nicht eingeladen wurde, an der Konsultation für ein neues Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union (EU) teilnehmen zu können.

Wir überlassen mit diesem Schreiben unsere Stellungnahme.

„Pro Schweiz“
Unabhängigkeit, direkte Demokratie, Neutralität, Landesverteidigung und Weltoffenheit haben die Schweiz zu einem Hort von Frieden und Freiheit gemacht, welcher seiner Bevölkerung Sicherheit und weltweit einen der höchsten Lebensstandards sowie Wohlstandslevels beschert hat. Kein Wunder ist die Schweiz daher in wichtigen internationalen Studien über Wohlstand, Innovation, Lebenszufriedenheit, Stabilität, Sicherheit, Freiheit, Ausbildung, Forschung und Demokratie immer in der Spitzengruppe zu finden.

Pro Schweiz mit über 25’000 Mitgliedern in allen Landesteilen der Schweiz hat sich zum Ziel gesetzt, dass dies zum Wohle unseres Landes und unserer Bevölkerung und insbesondere auch unserer jungen Generation auch in Zukunft so bleibt.

Verhandlungen mit der Europäischen Union

Grundsatz
Die Schweiz versteht sich als europäisches Land, das mit vielseitigen und umfassenden Engagements an der europäischen Wirklichkeit teilnimmt und somit auch essenzielle Beiträge zugunsten der Europäischen Union leistet.

Der Souverän und die Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft wollen keinen Beitritt zur Europäischen Union (EU). Dieser Grundsatz ist die Grundlage für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.

Würdigung der Beziehungen zur Europäischen Union
Wir anerkennen die Notwendigkeit, mit den Nachbarstaaten, mit den EU-Mitgliedstaaten und mit der Europäischen Union (EU) nachbarschaftliche, zuverlässige und rechtlich abgesicherte Beziehungen zu unterhalten. Die Beziehungen müssen die Interessen der Schweiz, besonders ihrer Bevölkerung, ihrer Sicherheit, ihrem sozialen Frieden, ihrem Lebensraum, ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ihrer Volkswirtschaft wahren.

Die Beziehungen müssen im Rahmen gleichberechtigter Partner und ohne einseitige machtpolitische Aktionen wie Retorsionsmassnahmen und politische Willkür geregelt und gelebt werden.

Feststellungen

  • Pro Schweiz stellt fest, dass nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen (InstA, «Rahmenabkommen») vom 22. Mai 2021 der Bundesrat und die Bundesverwaltung umfassende Vorarbeiten für neue Verhandlungen mit der Europäischen Union geleistet haben und zwar mit der Absicht, die Integration der Schweiz in die Europäische Union voranzutreiben. Die EU-Wahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 erzeugen in Bundesbern und Brüssel einen Zeitdruck, die Verhandlungen mit der aktuellen EU-Kommission rasch zu lancieren.
  • Pro Schweiz stellt fest, dass im sogenannten «Common understanding» vom 27. Oktober 2023 zwischen Bundesrat und der EU-Kommission Eckwerte für die geplanten Verhandlungen definiert worden sind.
  • Pro Schweiz stellt fest, dass der Bundesrat bemüht ist, insbesondere mit neuen Begriffen die Öffentlichkeit beziehungsweise die Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen, es sei gelungen, im Vergleich zum gestoppten Rahmenabkommen bei den institutionellen Fragen Vorteile für die Souveränität der Schweiz erreicht zu haben.
  • Pro Schweiz stellt fest, dass der Bundesrat ein Paket schnürt. Er verknüpft die Fragen der institutionellen Integration mit neuen bilateralen Abkommen und Regulierungen (Lebensmittelsicherheit, Gesundheitsabkommen, Energie/Strom-Abkommen, Forschungsprogramme, Finanzmarktregulierung) sowie mit regelmässigen Netto-Zahlungen an die Europäische Union («Kohäsions-Beiträge»).

Kernanliegen von Pro Schweiz
Pro Schweiz hat bereits am 21. Mai 2023 mit einem Schreiben an den Gesamtbundesrat auf folgende Kernanliegen hingewiesen:

  1. Keine automatische beziehungsweise «dynamische» Übernahme von EU-Folgerecht.
  2. Keine Unterstellung der schweizerischen Gesetzgebung inklusive des Referendumsrechts und Gerichtsbarkeit unter die Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU (EuGH).
  3. Keine rechtlichen Verknüpfungen von Abkommen mit sogenannten «Guillotine-Klauseln».
  4. Keine Verpflichtung, das Freihandelsabkommen von 1972 mit einer «Guillotine-Klausel» mit anderen Abkommenspaketen zu verknüpfen und keine verpflichtende Agenda, das Freihandelsabkommen zu «modernisieren», sowie keine Unterstellung des Abkommens unter das Regime eines möglichen institutionellen Rahmens.
  5. Keine Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) bei der Personenfreizügigkeit.

Diese Forderungen hat Pro Schweiz mit Medienmitteilungen vom 22. Juni 2023 und vom 15. Dezember 2023 erneut kommuniziert.

Neues Verhandlungsmandat mit der EU
Nach einer eingehenden Analyse des «Common understanding» kommt Pro Schweiz zum Schluss, dass der Bundesrat in den erwähnten Kernanliegen weitgehend schweizerische Positionen aufgegeben hat.

(Anm. Red.: In [##] wird auf die Ziffern im «Common understandig» hingewiesen.)

Der EU-Binnenmarkt prägt das EU-Recht
Die Europäische Union ist bestrebt, praktisch alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen den Regeln des Binnenmarktes zu unterstellen. Der Bundesrat setzt auf einen umfassenden Marktzutritt. Damit verpflichtet sich die Schweiz, in allen relevanten Bereichen des Alltages der Schweizerinnen und Schweizer (Zuwanderungs-, Sozial-, Umwelt-, Verkehrs-, Gesundheits-, Energie-, Forschungs- und Subventionspolitik sowie Föderalismus) EU-Recht zu berücksichtigen, in die eidgenössische Gesetzgebung zu überführen und strikt nach EU-Rechtsauffassung auszulegen.

Grundsätze des «Common understanding»
Alle aktuellen und neuen Abkommen mit der Europäischen Union sollen als Gesamtpaket behandelt werden. Das heisst, die institutionellen Fragen wie die Übernahme von EU-Recht sowie die abschliessende Auslegung von EU-Recht gelten für alle aktuellen und künftigen Abkommen [Ziff.1].

In Ziff. 12 wird präzisiert, dass alle Binnenmarktabkommen als kohärentes Ganzes betrachtet werden. Damit soll ein Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen der EU und der Schweiz sichergestellt werden. In letzter Konsequenz heisst das, die «Guillotine-Klausel» des Artikels 22 des gestoppten Rahmenabkommens von 2021 findet unverändert Eingang in das geplante Verhandlungsmandat.

Ziff. 8 postuliert, dass alle Binnenmarktabkommen und alle EU-Rechtsakte einheitlich auf der Grundlage der EU-Rechtsbegriffe und der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ausgelegt werden müssen.

Die Schweiz verpflichtet sich, für alle bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen mit wenigen Detail-Ausnahmen EU-Recht zu übernehmen. Entsprechende eidgenössische Gesetze müssen mit dem EU-Recht mindestens gleichwertig sein.

Sollte die Schweiz EU-Recht oder ein Auslegungsurteil des EuGH im Rahmen des EU-Binnenmarktrechts nicht übernehmen, wird die EU einseitig sogenannte Ausgleichsmassnahmen, die in ihrer Wirkung politischen und wirtschaftlichen Sanktionen gleichzustellen sind, anstrengen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
Der EuGH ist kein europäisches Gericht. Der EuHG ist eine zentrale Institution der Europäischen Union, welche die Aufgabe hat, die politische EU-Integration zu festigen und zu fördern.

Der Gerichtshof in der Rechtsordnung der Europäischen Union
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist das Rechtsprechungsorgan der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG). Er besteht aus zwei Gerichten: dem Gerichtshof und dem Gericht. Ihre Hauptaufgabe ist es, … eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten.
In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof die Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte herausgearbeitet, das Unionsrecht in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen umfassend anzuwenden und die Rechte zu schützen, die es den Bürgern verleiht (unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts); dazu haben diese eine dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts außer Anwendung zu lassen, gleichgültig, ob sie zeitlich vor oder nach der Unionsvorschrift liegt (Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht).

[Quelle: CURIA – Startseite – Gerichtshof der Europäischen Union (europa.eu)]

EU-Gerichtshof nimmt überragende Stellung ein
Im Ablauf der Streitbeilegung ist im Vergleich zum Rahmenabkommen von 2021 keine grundsätzliche Änderung vorgenommen worden. Nach wie vor würden Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung von Bestimmungen aus den Binnenmarktabkommen zuerst in den sektoriellen Ausschüssen behandelt. Wenn keine Lösungen gefunden werden können, wird ein Schiedsgericht angerufen. Stehen die Auslegung und Anwendung von EU-Rechtsbegriffen zur Diskussion, muss das Schiedsgericht den EuGH zwingend anrufen. Der EuGH entscheidet abschliessend und für alle Vertragspartner und Betroffenen rechtskräftig. Das Schiedsgericht scheidet somit aus dem materiellen Prozess aus [Ziff. 10].

Schlussfolgerung: Die direkte Demokratie wird schrittweise geopfert!

Geplantes Verhandlungsmandat führt zum legislativen Systemwechsel
Pro Schweiz ist überzeugt, dass die demokratische Ordnung der Schweiz, insbesondere der Gesetzgebungsprozess unter Einbezug des Referendumsrechts und des Föderalismus mit Blick auf die Souveränität der Kantone vor einem grundlegenden Richtungswechsel stehen. Mit Blick auf die umfassende, alles durchdringende EU-Binnenmarkt-Gesetzgebung, die Verknüpfung bestehender und künftiger Binnenmarktabkommen zu einem Rechtsbestand, welchem ausschliesslich EU-Recht zugrunde liegt, die abschliessende Rechtsauslegung des EuGH in faktisch allen Problemstellungen (es ist ja alles EU-Recht, welches wie Völkerrecht behandelt wird und somit über dem Landesrecht steht [Ziff. 8]) und die Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtbefolgung von EU-Recht haben direkten Einfluss auf den legislativen und judikativen Gestaltungsspielraum der Schweiz. Sie führen dazu, dass die Bundesverfassung folgerichtig neu ausgelegt werden müsste. Die Ergreifung des Referendumsrechts Art. 141 der Bundesverfassung bliebe an sich bestehen (die EU berücksichtigt die Referendumsmöglichkeit «gebührend» [Ziff. 9]), aber der Willen der Stimmbürgerinnen und -bürger sowie der Kantone (obligatorisches Referendum) zwingenden Einfluss auf den parlamentarischen Gesetzgeber zu nehmen, wird substanziell ausgehöhlt. Die demokratische Meinungsbildung wäre ab Beginn der Lancierung eines fakultativen Referendums der Drohung und machtpolitischer Erpressung unterworfen. Der Souverän würde immer mit Sanktionsandrohungen begleitet, wenn ein mit EU-Recht widersprechender Volksentscheid gefällt würde. Der Kommentar, „die Schweiz könne im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme immer über neues EU-Recht abstimmen“, wird somit zu einer inhaltslosen Beurteilung der Realität.

Selbst das obligatorische Referendum gemäss Art. 140 BV wird mit dem angestrebten Regime der institutionellen EU-Integration in Frage gestellt werden müssen.

Die Infragestellung des Referendumsrechts betrifft die Bundesverfassung. Bereits mit den im „Common understanding“ vereinbarten Verhandlungszielen und mit den mittelfristig voraussehbaren Auswirkungen der institutionellen EU-Einflussnahme auf die parlamentarische Gesetzgebung und auf das verfassungsmässige Gesetzesreferendum wird erkennbar, dass ein mögliches Verhandlungsergebnis mit der EU dem obligatorischen Referendum unterstehen muss.

Die überragende Stellung des Gerichtshofes der Europäischen Union widerspricht grundsätzlich dem Wesen der eidgenössischen Gesetzgebung, hebelt die direktdemokratische Mitgestaltung der Legislative aus, setzt in letzter Konsequenz die Judikative als obersten Gesetzgeber ein und stellt in der Summe der Folgen die Souveränität der Schweiz in Frage.

Die unverrückbaren Positionen der Europäischen Union lassen keine «Opting-outs» und keinen grossen Verhandlungsspielraum zugunsten der Schweiz zu. Pro Schweiz ist überzeugt, dass aufgrund der Diskussion um das gestoppte Rahmenabkommen der Schweizer Souverän dem erneuten Versuch des legislativen Umbaus und der Schwächung der direkten Demokratie nicht zustimmen wird. Pro Schweiz ist besorgt, dass der Bundesrat mit seiner einseitig auf die EU-Institutionen ausgerichteten Politik das Verhältnis mit der Europäischen Union zusätzlich belastet und weiterer machtpolitischer Willkür der EU-Kommission ausliefert. Zudem nimmt die Landesregierung in Kauf, dass wertvolle Zeit verspielt wird, welche für die weltweite Interessenwahrung der Schweiz, für den Zugang zu neuen Märkten und für Optionen zur Gestaltung des Verhältnisses mit der Europäischen Union wie einem aktualisierten Freihandelsabkommen investiert werden müsste.

Das angestrebte Verhandlungsmandat geht weit über die Regelung wirtschaftlichen Beziehungen hinaus. Der Bundesrat strebt de facto eine Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt an und ist somit bereit, weite Teile des EU-Rechts und die finale EU-Rechtsprechung zu übernehmen. Der Bundesrat strebt keinen aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der Schweiz und den EU-Staaten fairen Marktzugang an.

Das EU-politische Ziel des Bundesrates und der Bundesverwaltung sind folgerichtig die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union. Das angestrebte Verhandlungsmandat schafft die Voraussetzungen dafür.

Forderung
Pro Schweiz fordert den Bundesrat auf, seine EU-Politik zu hinterfragen und die Handlungsfreiheit der Schweiz nicht mit einem EU-ausgerichteten Verhandlungsmandat zum Vorneherein unnötig einzuschränken. Die grösstmögliche Souveränität der Schweiz, ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie der Kantone sind zu wahren.

Freundliche Grüsse

PRO SCHWEIZ ● PRO SUISSE ● PRO SVIZZERA ● PRO SVIZRA

Dr. Stephan Rietiker
Präsident

Werner Gartenmann
Geschäftsführer

Das «Common understanding» (English)
Das «Common understanding» (Deutsch)