Nach einer durchaus fundierten geopolitischen Analyse verfällt der Verfasser beim Thema „Ukrainekrieg“ wieder auf die sattsam bekannten Muster zurück: Der Krieg bzw. die „Spezialoperation“ habe eben eine „Vorgeschichte“ (die den Angriffskrieg offenbar rechtfertigen soll). Dann folgen einige immer wieder kolportierte Einzelheiten dieser „Vorgeschichte“. Erstens: Die Nato habe sich – entgegen klaren Zusicherungen oder gar verbindlichen Vereinbarungen – nach Osten ausgeweitet, was die Sicherheit Russlands gefährde. Zweitens: Der Ukrainekrieg sei ein „Stellvertreterkrieg“ der USA gegen Russland, um die eigene Vormachtstellung zu festigen und Russland zu schwächen. Drittens: Die Nato sei unter Führung der USA längst zu einem Angriffsbündnis mutiert, und die USA seien die wahren Kriegsverbrecher. Viertens: Selenski sei eine Marionette der USA, korrupt und diktatorisch. Und fünftens: Die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine sei systematisch diskriminiert worden, was zur Sezession geführt habe.
Die „Vorgeschichte“ und die Realität
Zu Thema „Vorgeschichte“ stelle ich grundsätzlich fest: Alles hat eine Vorgeschichte, und alles, was heute passiert, hat ein Gestern und Vorgestern. Aber keine dieser „Vorgeschichten“ – selbst wenn sie zutreffen würde – könnte Putins völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieg und den Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung auch nur im Ansatz rechtfertigen. Darum ist er vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher verurteilt worden. Schon im Nürnberger Hauptprozess 1945/46 war die Planung und Führung eines Angriffskrieges einer von vier zentralen Anklagepunkten, der zum Tod durch den Strang geführt hat.
Kommentar zur den einzelnen „Vorgeschichten“
1. Nato-Osterweiterung: Wie Peter Schweizer richtig ausführt, haben seinerzeit einige westliche Politiker gegenüber russischen Kollegen Andeutungen gemacht in Richtung „Es gibt keine Nato-Osterweiterung“. Vertragliche Vereinbarungen gab es aber keine. Im Gegenteil: Der Kronzeuge in der entscheidenden Phase – Michail Gorbatschow – hat 2014 in einer grossen russischen Zeitung auf die Frage nach solchen Zusicherungen erklärt, zu seiner Zeit seien die Nato und die Osterweiterung „kein Thema“ gewesen. Dazu kommt: Die Nato wollte und will sich gar nicht per se nach Osten ausweiten; es sind die Länder in Nord- und Osteuropa, die sich unter ihren Schutz begeben wollen. Sie trauen Putin nicht und haben in der Vergangenheit mit dem östlichen Nachbarn ihre Erfahrungen gemacht.
2. Stellvertreter-Krieg: Die immer wieder kolportierte These vom „Stellvertreterkrieg“ der USA gegen Russland relativiert die Tatsache, dass Putin diesen Angriffskrieg befohlen hat und für die furchtbaren Konsequenzen die Verantwortung trägt. Es waren bekanntlich weder die „bösen“ Amerikaner noch Selenski, welche diesen Krieg losgetreten haben. Die These von „Stellvertreterkrieg“ schiebt die Schuld quasi auf die Amerikaner, denen es nur darum gehe, Russland zu schwächen. In den Hintergrund geschoben werden damit auch die unermesslichen Leiden und Opfer der ukrainischen Zivilbevölkerung.
3. Die USA als Kriegstreiber: Es trifft zu, dass die USA bei etlichen Konflikten, z.B. nach Saddam Husseins Einfall in Kuwait, mit der (Nato-)Bombardierung Belgrads, in Afghanistan und anderswo militärisch eingegriffen haben. Aber immer wieder war es die „freie Welt“, die lauthals nach den USA geschrien hat, sie müssten endlich gegen die mörderischen Despoten und ihre Terrorregime einschreiten. Und warum erwähnt Peter Schweizer die Angriffskriege bzw. militärischen Interventionen der Russen in jüngerer Zeit (u.a. gegen Afghanistan, Georgien, Tschetschenien, Transnistrien, Taschikistan, Dagestan, Kasachstan, Syrien) mit keinem Wort?
4. Korrupter Selenski: Indem Peter Schweizer und Gleichgesinnte versuchen, Selenski als Korrupten, Lügner, Polit-Kabarettisten und USA-Marionette zu verunglimpfen, disqualifizieren sie sich selbst. Denn jeder vernünftige Mensch sieht, dass Selenski mit unglaublichem Mut und Einsatz für die Existenz seines Landes kämpft und dass es ihm und seiner Armee seit anderthalb Jahren allen Voraussagen zum Trotz gelingt, dem Putin-Regime die Stirn zu bieten. Im Übrigen wäre auch ein korruptes System keine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg; Korruption ist bekanntlich gerade auch in Russland, Weissrussland und in weiteren Staaten der Region weit verbreitet.
5. Diskriminierung in den Ostgebieten: Geradezu unerträglich einseitig ist Peter Schweizers Sicht zur Rolle, die Russland im Krim- und Donbass-Konflikt spielt. So behauptet er, die USA und ihre Rüstungsindustrie hätten die anfänglich gute Zusammenarbeit zwischen Russland und der Ukraine (unter dem Putin-hörigen Präsidenten Janukowytsch) torpediert und durch eine 5-Milliarden-Dollar-Unterstützung des Maydan-Aufstandes den Sturz Janukowytschs herbeigeführt – als liesse sich eine stabile, im Volk verankerte Regierung derart einfach entfernen! Und fortan, so Schweizer, seien die mehrheitlich russischsprachigen Ostgebiete mit eigentlichen „Rassengesetzen“ diskriminiert worden, was zur Sezession geführt habe. Das ist sogar laut Aussagen von direkt Betroffenen und Beobachtern masslos übertrieben. Putins Propaganda zeigt offensichtlich Wirkung!
Kein Wort verliert Schweizer hingegen über die systematische Aufwiegelung und Unterstützung der sezessionistischen Kreise im Donbass, im Luhansker und im Donezker Gebiet durch Russland und das Eingreifen von (russischen) Truppen ohne Achselpatten, also „ohne Identität“. Und mit keinem Wort erwähnt Schweizer die Russifizierung, die in den besetzten ukrainischen Gebieten und nun besonders brutal auch in Mariupol und anderswo vorangetrieben wird. Und mit unverhohlener Bewunderung konstatiert er, die (völkerrechtswidrige) Annexion der Krim sei „ohne einen einzigen Schuss“ erfolgt, als wäre dies eine Rechtfertigung der Annexion. Auch für das Scheitern des Minsker Abkommens, das eine Entflechtung der Konfliktparteien bzw. von schweren Waffen vorsah, und das eindeutig von Putin torpediert wurde, gibt Schweizer wiederum der Ukraine die Schuld.
Fazit: Auch Peter Schweizer kann die Tatsache nicht wegwischen, dass Präsident Putin aufgrund seines verbrecherischen Angriffskrieges die Verantwortung trägt für Zehntausende von militärischen und zivilen Toten und ein Mehrfaches an Verletzten, für Millionen von Flüchtlingen, unabsehbare Zerstörungen ziviler Infrastrukturen und unglaubliche Gräueltaten.
Waffenstillstand und Frieden?
Selbstverständlich muss dieser barbarische Angriffskrieg eines Tages ein Ende finden. Ein solider Friede wird aber m. E. nur möglich sein, wenn die Ukraine in der Lage ist, Russland weiterhin militärisch die Stirn zu bieten. Vielleicht wäre eine immerwährende, bewaffnete Neutralität à la Schweiz für die Ukraine die (noch weit entfernte) Lösung. Nach den aktuellen Erfahrungen mit Russland wird man sich in Kiew aber wohl kaum auf ein solches Risiko einlassen. Zurecht wird man befürchten, dass Russland eine neutrale Ukraine so wenig respektieren würde wie Hitler im Jahre 1940 die Neutralität von Holland, Belgien und Luxemburg. Darum will Kiew der Nato beitreten.
Integrale Neutralität
In einem zentralen Punkt bin ich mit Peter Schweizer einig: Die Schweiz muss sich auf ihre Stärken besinnen, und der Bundesrat muss sich strikte an die integrale (umfassende) Neutralität halten – bzw. wieder zu ihr zurückfinden. Darum ist die Neutralitätsinitiative, für welche derzeit die Unterschriftensammlung läuft, von grösster Bedeutung. Unsere immerwährende, bewaffnete Neutralität ist unser weltweit einzigartiges Sicherheits- und Friedeninstrument. Auch der Staatsrechtler Professor Dr. Mark E. Villiger hat dies in seinem Vortrag „Die Neutralität der Schweiz – eine rechtliche Einordnung“ anlässlich der 1. ordentlichen Mitgliederversammlung von PRO SCHWEIZ am 3. Juni 2023 ausdrücklich betont. Zu Unrecht hat Villiger jedoch kritisiert, die Initiative biete zu wenig aussenpolitischen Handlungsspielraum für den Bundesrat. Denn genau dieser „Spielraum“ hat bewirkt, dass sich der Bundesrat von der Neutralität verabschiedet, die Sanktionen gegen Russland weitgehend übernommen und die Glaubwürdigkeit der Neutralität untergraben hat.
Darum muss die Substanz unserer Neutralität in der Verfassung verankert werden. Nur eine glaubwürdig neutrale Schweiz kann ihre Vermittlerdienste bei Konflikten erfolgreich anbieten und zum Frieden in der Welt beitragen. Wenn hingegen der Kleine (der Kleinstaat Schweiz) das Gleiche zu machen versucht wie die Grossen, ist er nur noch klein.