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Leserbrief: «Mehr Neutralität oder mehr Nato?»

Dem emeritierten Politologieprofessor Wolf Linder ist in seinem Gastkommentar das Kunststück gelungen, die Diskussion um die immerwährende bewaffnete Neutralität der Schweiz aus der Sackgasse der tages- und parteipolitischen Polemik herauszuführen (NZZ 16. 7. 24).

Es geht bei der Neutralität nicht um ein Staatsziel, aber um eine fundamentale, entscheidende aussenpolitische Maxime, die nicht in der Verfassung zu figurieren braucht, solange sie zum kaum bestrittenen Selbstverständnis des Landes gehört.

Wenn aber selbsternannte Eliten unter dem Schock einer aktuellen Konfliktsituation unbedacht eine seit Jahrhunderten bewährte Position plötzlich relativieren, braucht es einen überparteilichen Ordnungsruf zur bewährten Position auf Verfassungsstufe.

Die Neutralität ist, schon bevor dies von geschichtsbewussten Völkerrechtlern ausdrücklich formuliert worden ist, stets mit den Prinzipien der Solidarität, der Universalität und der Disponibilität verknüpft worden, alles wichtige Überlebensprinzipien eines relativ kleinen Staates.

Die Neutralität wurde und wird von Kriegsparteien stets als Schlaumeierei und als moralisch verwerflicher Opportunismus gebrandmarkt. Intellektuelle haben deshalb immer wieder versucht, eine schrittweise Verabschiedung oder mindestens eine Relativierung zu propagieren. Die jeweils Kriegführenden deuten dies dann umgehend als Abschaffung. Diese Aussenwahrnehmung ist bei der Neutralität entscheidender als völkerrechtliche Spitzfindigkeiten.

Wenn sich übrigens alle Länder der Welt für eine Politik der Neutralität, verknüpft mit glaubwürdiger Selbstverteidigung, entscheiden würden, so würde dies auch dem Kantschen kategorischen Imperativ entsprechen, sich so zu verhalten, dass die Maxime des eigenen Handelns zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Das ist das Gegenteil von Opportunismus.

Robert Nef, St. Gallen
Meinung & Debatte, NZZ 22.7.2024