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Mehr Armee, weniger VBS

Um die Landesverteidigung zu gewährleisten, braucht es mehr Waffen und Soldaten. Doch dafür fehlt es an mutigen Politikern.
Von Prof. Dr. Christoph Mörgeli, Weltwoche, Vorstandsmitglied Pro Schweiz

Korpskommandant Laurent Michaud muss als Chef Kommando Operationen die Bereitschaft der Armee sicherstellen und ihre Einsätze planen und führen. Der frühere Ausbildner von Grenadieren und Fallschirmaufklärern kommt im Gegensatz zu Armeechef Thomas Süssli von den Kampftruppen. Darum gilt der direkte, robuste Waadtländer Troupier neben dem eher politisch ausgerichteten Aushängeschild Süssli als die starke Figur innerhalb der Armeehierarchie. An der Mitgliederversammlung des Verbands Militärischer Gesellschaften Schweiz (VMG), dem Zusammenschluss von über dreissig militärischen Vereinen und Gesellschaften, wurden letzten Samstag Michauds Ausführungen zur Schweizer Armee in Bern mit entsprechender Spannung erwartet.

Die gute Botschaft: Die Armee hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie nimmt die Rückkehr des Krieges in Europa zum Anlass, die Verteidigungsfähigkeit des Landes endlich wieder zu stärken. Dieser Kernauftrag gilt für alle Wirkungsräume: Boden, Luft und Cyberspace. Um das Unwort «Aufrüstung» zu vermeiden, sprach Korpskommandant Michaud von einem «Aufwuchs» der Bestände und Kosten von rund 13 Milliarden Franken in einer ersten Tranche bis Anfang der 2030er Jahre. Ermöglichen soll dies die von Bundesrat und Parlament bereits beschlossene Budgeterhöhung auf 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Zu beachten ist, dass das im August von der Armeeführung vorgestellte «Schwarzbuch» von der Landesregierung noch nicht diskutiert und genehmigt worden ist.

Verlust an Führungskompetenz

Laut Laurent Michaud geht es darum, Lücken rasch zu füllen. Die Armee müsse sich weniger auf die wahrscheinlichste als auf die gefährlichste Bedrohung einstellen. Der Bevölkerungsschutz, das Helfen und Retten, stehe nach heutiger Armeekonzeption im Vordergrund, diese Aufgaben meisterten unsere Soldaten gut. Bezüglich der Tauglichkeit zum «Kämpfen» herrsche aber riesiger Handlungsbedarf. Unsere Armee mit dem «Bürgersoldaten im Zentrum» müsse ein Duell gewinnen, Gewalt und ihre Auswirkungen bewältigen, langfristig mobilisieren und sich verteidigen können. Hierzu seien wieder gemeinsame Übungen der grossen Verbände durchzuführen, wobei die Hierarchiestufen unter Druck trainiert würden. Recht internationalistisch äusserte sich der Chef Operationen unter dem Motto «Von und mit anderen lernen»: Gemeinsame Übungen mit ausländischen Truppen und die «Interoperabilität» seien künftig «Garant der Handlungsfreiheit». Was man durchaus umgekehrt sehen könnte: Sobald fremde Kommandozentralen führen, verliert die eigene Armee an situationsgerechter Führungskompetenz.

Die Rückkehr zum Kernauftrag zur Stärkung der Verteidigungsarmee kommt keinen Moment zu früh. Von den gegenwärtig siebzehn Infanteriebataillonen sind gerade mal zehn vollständig ausgerüstet, von den drei mechanisierten Brigaden verfügen lediglich zwei über Kampfpanzer. Statt deren Bestände zu erhöhen, hat der Bundesrat 25 einsatzfähige Panzer Leopard 2 ausser Dienst gestellt, um sie ins Ausland zu verhökern. Bei der Artillerie sollen die fünfzigjährigen Panzerhaubitzen durch ein modernes System mittlerer Reichweite aus Schweden oder Deutschland ersetzt werden. Zur Modernisierung der Fliegerabwehr wurde die Beschaffung moderner Mittel zur bodengestützten Luftabwehr (Bodluv) des amerikanischen Typs Patriot bewilligt, der die Lenkwaffen und die Radare vernetzt. Ein Volksentscheid bekräftigte den Kauf von 36 Kampfflugzeugen des Typs F-35A. Mittlerweile routinemässig führt die Luftwaffe Nacht- und Tiefflugtrainings im Ausland durch, demnächst in Grossbritannien. Eine empfindliche Lücke klafft im Bereich von Aufklärungsdrohnen, weil es mit den israelischen Lieferanten zu Verzögerungen und Pannen kam. Die bei der Umsetzung der Armee XXI übereilt zentralisierte Logistik sowie Infrastruktur muss raschmöglichst und unter erheblichen Kosten wieder dezentralisiert werden.

12 000 Stellen, 56 Generäle

Das grösste Problem für die Armee besteht allerdings in den Beständen. 2030 werden noch maximal 120 000 statt der festgesetzten 140 000 Wehrmänner Dienst leisten. Davon wären gerade noch 21 000 kampftauglich, eine Anzahl, die im Berner Stadion Wankdorf Platz fände. Statt jährlich mindestens 6000 Zivilschutzleistende sind es derzeit gerade noch 2800. Das heutige Zivildienstmodell schafft für junge Männer faktisch eine attraktive Wahlfreiheit was gegen die geltende Bundesverfassung verstösst, wo es heisst: «Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten.» Weil aber das Gesetz einen zivilen Ersatzdienst vorsieht, hat die Armee Jahr für Jahr einen Ausfall von rund 7000 diensttauglichen Männern zu beklagen; das entspricht bestandesmässig einer vollen Brigade. Statistisch belegt haben davon etwas über 1000 einen echten Gewissenskonflikt. Die übrigen wählen den weit lockereren Zivildienst, um ihre berufliche und private Lebensplanung zu optimieren. So besteht mittlerweile eine «Schattenarmee» von Zivildienstleistenden in der Grösse von 55’000 Mann. Sie alle fehlen nicht nur der Armee, sondern auch den militärischen Vereinigungen, die den Gedanken des Wehrwesens und des Milizsystems in der Gesellschaft wachhalten.

Bevor sich die Politik daran macht, das geltende Dienstpflichtmodell zu reorganisieren und eine Sicherheitsdienstpflicht zu diskutieren, müsste sie sich mit der Revision des Zivildienstgesetzes befassen. Die Mitte-Partei trägt an den Missständen eine grosse Verantwortung, hat sie sich doch in der Sommersession 2020 den dringend gebotenen Verschärfungen für einen Übertritt geschlossen widersetzt. Wie sollen militärische Chefs angesichts der bequemen Alternative von ihren Untergebenen anstrengende Übungen, eine wochenlange Zwangsgemeinschaft und bei allfälligen Verstössen gegen Befehle Arrest und Bussen durchsetzen? Ein Bataillonskommandant wies in der NZZ auch auf das Trittbrettfahrerproblem hin: «Wer würde im Konfliktfall überhaupt noch einrücken? Würden dann nicht alle ein Zivildienstgesuch stellen? Mit welcher moralischen Berechtigung könnten wir Kommandanten die verbleibenden Wehrmänner in lebensgefährliche Einsätze befehlen?»

Die Rückkehr zum Kernauftrag zur Stärkung der Verteidigungsarmee kommt keinen
Moment zu früh.

Doch weder der Gesamtbundesrat noch das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) scheinen die sich auftürmenden Probleme genügend ernst zu nehmen. In einer Hauruck-Übung beschloss die Landesregierung Anfang Jahr eine kurzfristige Sparmassnahme von 1,6 Milliarden Franken bei der Armee. Sie wich damit vom Parlamentsziel vom Mai 2022 ab, das Armeebudget ab 2023 bis spätestens 2030 schrittweise von heute rund 0,7 auf mindestens 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Dies war ein komplett falsches Signal – zum Schaden der Armee. Die VBSVerantwortliche Viola Amherd (Mitte) unterwarf sich willig dem Sparkurs von Karin KellerSutter (FDP), auf dem Buckel der Verteidigungsfähigkeit. Die Schweiz ist mittlerweile im europäischen Vergleich Schlusslicht bezüglich Verteidigungsausgaben pro Kopf, wenn man vom Vatikan einmal absieht. Noch schlimmer: Trotz der Kriegssituation im östlichen Europa wollte Amherd auf Druck der Linken die Armee um 7000 Angehörige reduzieren. Sie lief damit zum Glück am 1. November im Bundesrat auf.

Im Gegensatz zur Armee hat der Personalbestand im VBS ständig zugenommen und umfasst mittlerweile 12 130 Mitarbeiter. Nicht weniger als 56 Generäle kommandieren beziehungsweise verwalten die schrumpfenden Bestände. Das sind gleich viele wie bei der fast doppelt so grossen Armee XXI. Eine von der Departementschefin eingesetzte 25-köpfige Studienkommission erarbeitet am grünen Tisch eine künftige Sicherheitspolitik. Wohin die Reise gehen soll, zeigt die Mitwirkung der grünen Nationalrätin Marionna Schlatter, die mit den Armeeabschaffern gegen den Kauf neuer Kampfjets gekämpft hat («Kalter Krieg war gestern»). Derweil gehört Marco Jorio zu den profiliertesten Kritikern der dauernd bewaffneten Neutralität.

Das neugeplante Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (Sepos) offenbarte sich personell, strategisch und strukturell als einziges Desaster. Die damit verbundene teure Bürokratie wird weder für die Landesverteidigung noch für die Milizarmee Interesse aufbringen. Im Amt des Generalsekretärs im VBS wurde Toni Eder (Mitte), militärisch Oberstleutnant, durch Daniel Büchel ersetzt, der zwar ein Mitte-Parteibuch besitzt, aber nie einen militärischen Beförderungskurs absolviert hat. Seine Gattin Kerstin Büchel, seit 2007 Schweizer Bürgerin und ehemals Mitte-Nationalratskandidatin, amtete als Generalsekretärin der PostVerwaltungsratspräsidenten Claude Béglé und Urs Schwaller (beide Mitte). Sie zählte zu den Empfängern der vertraulichen Aktennotiz von 2013, wonach die Konzernführung schon damals über nicht regelkonforme Umbuchungen von 30 Millionen Franken bei der Postauto Schweiz AG informiert worden war.

Klimaschutz und Feminisierung

Viola Amherd wollte sich mit Nachhaltigkeit und Klimaschutz, vor allem aber durch die Feminisierung der Armee einen Namen machen. Wie ein Schatten steht hinter ihr die Parteikollegin Brigitte Hauser-Süess, ehemals Präsidentin der CVP-Frauen und gelernte Fachlehrerin für Bürofächer. Sie hat in allen wichtigen Personalentscheidungen die Finger im Spiel. Als Chefin Sicherheitspolitik verfolgt Pälvi Pulli als gebürtige Finnin einen dezidierten Annäherungskurs an die Nato. Michaela Schärer übernahm 2021 die Leitung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz von einem Divisionär; Militärdienst hat sie nie geleistet. Und Amherd hätte als Nachfolgerin des Armeechefs wohl niemanden lieber als Divisionär Germaine Seewer aus dem Oberwallis vorgesehen, wenn sie altersmässig noch in Frage käme. Kurz: Es gibt zu viel Politik und zu wenig Militär, zu viele Schreibtische und zu wenig Schiessplätze, zu viel VBS und Bürokratie und zu wenig Armee. Leider hat es Bundesrätin Viola Amherd trotz Rückkehr des Krieges in der Ukraine und im Nahen Osten verpasst, sich vor der Schweizer Bevölkerung als vertrauenswürdige, führungsstarke Verteidigungsministerin zu präsentieren. Dabei hätte ihr deutscher Amtskollege Boris Pistorius (SPD) genau dies vorgelebt. Nun ist es nicht so, dass Amherd dies misslungen wäre. Schlimmer noch: Sie hat es gar nicht erst versucht.