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Mehrheit des Ständerates auf NATO-Kurs

Die Mehrheit des Ständerates sagt Ja zur Teilnahme an Nato-Bündnisfallübungen und lehnt die entsprechende Motion der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates ab, welche solche Übungen verhindern wollte. Bundesrätin Amherd kann somit ihren heimlichen Nato-Beitrittskurs wieder etwas beschleunigen. Die Urner Ständerätin Heidi Z’graggen (Die Mitte) hat in der ständerätlichen Debatte von gestern Dienstag, 17. September 2024, ein hervorragendes Votum für eine konsequente Neutralitätspolitik gehalten.

Wir haben es gehört: Die SiK-S (Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates) will die Motion ohne Gegenantrag ablehnen. Ich erachte hingegen die vorliegende Frage als so zentral, dass unser Rat darüber befinden muss. Es geht nicht bloss um eine sicherheitspolitische Frage, sondern es ist auch von grosser staatspolitischer Bedeutung. Ich beantrage Ihnen, dem Nationalrat zu folgen und die Motion anzunehmen, und dies aus folgenden Gründen.

Artikel 5 des Nordatlantikvertrages ist das Kernelement des Prinzips der kollektiven Verteidigung und somit der gesamten Nato-Allianz. Das Auslösen von Artikel 5 wird Bündnisfall genannt. Das heisst, wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird, wird das als Angriff auf alle Nato-Mitglieder gewertet. Das Bündnis verteidigt sich dann gemeinsam, also kollektiv. Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung hält fest, dass die Armee zur Erhaltung des Friedens beiträgt, das Land und seine Bevölkerung schützt sowie zivile Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit unterstützt. Die Armee schützt das Land und seine Bevölkerung in der Schweiz und aus der Schweiz und nicht an der Nato-Aussengrenze. Sie soll sich auf ihre verfassungsmässigen Aufgaben fokussieren und nicht an Verteidigungsübungen an den Aussengrenzen eines Verteidigungsbündnisses teilnehmen können.
Staatssekretär Markus Mäder sagte gestern in der „NZZ“: „[…] weder der Bundesrat noch die Nato haben vor, dass Schweizer Verbände bei Verteidigungsübungen an der Aussenfront der Nato mitmachen.“ Aber sie könnten es, und es bleibt neutralitätspolitisch die Tatsache, dass die Schweiz Teil von Artikel-5-Übungen wäre. Sie wird so in der Völkergemeinschaft, also von aussen, zur Nato gerechnet. Wollen wir das? Nein.

Eine Teilnahme an Artikel-5-Übungen der Nato ist neutralitätsrechtlich und neutralitätspolitisch äusserst bedenklich, da sie für den Neutralitätsfall geeignet sind, sogenannte Vorwirkung zu erzielen. Dazu sagt der Bundesrat in seinem Bericht „Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik“ in der Erfüllung des Postulates 22.3385: „Der dauernd neutrale Staat darf in Friedenssituationen keine Tatsachen schaffen, die ihm die Einhaltung der Pflichten aus dem Neutralitätsrecht im Kriegsfalle verunmöglichen. Aktivitäten zu Friedenszeiten wirken in diesem Sinne vor, für den Fall eines international bewaffneten Konflikts.“
Die Teilnahme der Schweiz an Nato-Verteidigungsübungen in Friedenszeiten ist geeignet, die Schweiz als Teil der Nato wahrzunehmen, was sie im Neutralitätsfall jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt und sie zur faktischen Kriegspartei machen könnte. Wolf Linder sagt in der „NZZ“: „Es ist kurzsichtig, die Neutralität kleinzureden. In einer zunehmend multipolaren Welt steigen die Kriegsrisiken, wenn sich alle Länder einem der grossen Machtblöcke anschliessen.“

Ich stimme meinem Doktorvater zu. Auch ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die vom Bundesrat angestrebte schrittweise Annäherung an die Nato wie eine gezielte Salamitaktik wirkt, die die Option einer vollständigen Integration offenhält, ohne dies offen auszusprechen. Ich sehe nicht, wie die militärische Zusammenarbeit mit der Nato intensiviert werden kann und gleichzeitig neutralitätsrechtliche Pflichten garantiert werden sollen.

Drei Beispiele dazu:

  1. In Zukunft sollen im Rahmen des Pesco-Projekts NATO-Streitkräfte einfacher und ohne Bewilligung durch die Schweiz transportiert werden können.
  2. Der Bundesrat hat den Beitritt zur European Sky Shield Initiative beschlossen. Bei European Sky Shield handelt es sich um ein Projekt – vorwiegend von Nato-Staaten – im Bereich der Flugabwehr, bei dem gemeinsam neue Waffensysteme eingekauft werden, die dann möglichst vernetzt eingesetzt werden sollen. Damit nehmen für die Schweiz die politischen und technologischen Abhängigkeiten von der Nato erheblich zu.
  3. Im „Blick“ vom 12. Mai 2024 war zu lesen, dass der Schweizer Nato-Botschafter in Brüssel, Philippe Brandt, im Dezember 2023 einen brisanten Brief unterzeichnet habe. Wie die österreichische Zeitung „Die Presse“ berichtete, sieht das Schreiben einen Fünf-Punkte-Plan vor, wie die neutralen Länder Schweiz, Österreich, Malta und Irland noch enger mit der Nato zusammenarbeiten können. Dazu zählen auch Übungen von komplexen militärischen Szenarien. Zwischendurch, so der „Blick“, lese sich der Brief oder das Schreiben wie eine Liebeserklärung an die Nato.

Die Teilnahme der Schweizer Armee an Artikel-5-Übungen der Nato ist zumindest in der Aussenwahrnehmung ein gefährlicher Schritt weg von der Neutralität und hin zur Nato, und dies in einer Zeit voller Unsicherheit und Komplexität in der sicherheitspolitischen Lage in Europa. Das Staatssekretariat für Sicherheitspolitik schreibt auf seiner Website, die Übungsteilnahme an Nato-Übungen würde es der Armee ermöglichen, daraus direkte Lehren für die eigene Verteidigungsfähigkeit zu ziehen. Als Teilnehmerin könnte die Schweiz das Szenario mitgestalten, eigene Anliegen einbringen und festlegen, an welchen Segmenten sie sich beteiligt und so weiter.

Diese Sichtweise kann ich teilen, wenn die Schweizer Armee auf bilateraler Basis mit oder bei ihren unmittelbaren Nachbarn trainiert und damit die Interoperabilität verbessert. Die Luftwaffe macht dies seit vielen Jahren äusserst erfolgreich und profitiert von gemeinsamen Ausbildungen und Übungen. Gemeinsame Verteidigungsübungen mit einem Militärbündnis hingegen, dessen Kernelement die Beistandspflicht seiner Mitglieder ist, könnten jedoch als neutralitätsrechtlich und neutralitätspolitisch vorauswirkende Handlungen wahrgenommen werden. Und so scheint es auch tatsächlich zu sein.

Die vertiefte Integration der Schweizer Armee in die Nato-Strukturen ist erklärtes Ziel des Bundesrates, das er nach Kräften vorantreibt. So erlaubte der Bundesrat der Nato, ein Verbindungsbüro in Genf zu eröffnen. Die erste permanente Präsenz des Militärbündnisses in der Schweiz – ausgerechnet im Haus des Friedens. Gemäss Bund, der den Bau mitfinanziert hat, ist das Haus als Ort der Begegnung, Reflexion, des Handelns im Bereich der Friedensförderung konzipiert. Das Militärbündnis im Haus des Friedens – eine eigentümliche Diskrepanz. Im Übrigen finde ich auch das bereits erwähnte grosse Interview mit Staatssekretär Mäder in der „NZZ“ eine eigentümliche Koinzidenz mit der heutigen Debatte.

Soweit zu den politischen Überlegungen, weshalb unser Rat die Motion annehmen und sich vertieft mit ihr befassen muss. Es gibt aber auch ganz praktische Gründe. Die Schweizer Armee ist aufgrund ihres Miliz- und Ausbildungssystems und aufgrund der Freiwilligkeit von Auslandseinsätzen gar nicht in der Lage, an Nato-Verteidigungsübungen in Polen, Deutschland oder in anderen Nato-Staaten teilzunehmen.

So scheint es, dass die Schweizer Armee erhebliche Schwierigkeiten hat, nur schon genügend Freiwillige für eine geplante Truppenübung im Frühling 2025 auf einem Waffenplatz in Österreich zu rekrutieren. Diese Übung ist, wie alle Auslandeinsätze für Milizsoldaten, freiwillig. Die Armee sucht zwischen 700 und 850 Freiwillige aus der Mechanisierten Brigade 11. Doch die erste Runde der Umfrage habe nicht die erforderliche Anzahl von Teilnehmenden ergeben. Aus diesem Grund wird nun eine erweiterte Umfrage durchgeführt, um mehr Soldaten zu gewinnen.

Diese Entwicklung wirft Fragen zur Motivation und Bereitschaft der schweizerischen Milizsoldatinnen und -soldaten auf, an Übungen im Ausland teilzunehmen und zeigt gleichzeitig, wie anspruchsvoll es sein kann, Freiwillige für solche Manöver zu rekrutieren. Warum? Es entspricht nicht der politischen Kultur der Schweiz und nicht dem Selbstverständnis unserer Soldatinnen und Soldaten. Sie wollen nicht im Ausland trainieren, weil dies nicht mit der Neutralität vereinbar ist.

Dem Vernehmen nach überlegt sich die Armee deshalb sogar, ein Obligatorium für Wiederholungskurse im Ausland einzuführen. Als Vorbereitung für Übungen, bei denen der Bündnisfall gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrages simuliert wird? Wie hoch wäre die Bereitschaft, bei solchen „Artikel-5-Übungen“ teilzunehmen, wenn bereits Manöver-Wiederholungskurse im Ausland zu scheitern drohen?

Aufgrund der dargelegten politischen, neutralitätsrechtlichen und praktischen Bedenken zur Teilnahme der Schweiz an Verteidigungsübungen nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages beantrage ich, die Motion (der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates) anzunehmen.

Vollständige Debatte: 24.3012 | Fokussierung auf die verfassungsmässigen Aufgaben der Armee. Keine Teilnahme an Nato-Bündnisfallübungen! | Amtliches Bulletin | Das Schweizer Parlament