732 Jahre Selbständigkeit
Wir sind heute in wunderbarer Umgebung zwischen den beiden Seen des Berner Oberlandes und am Aufstieg zur Jungfrau-Region zusammengekommen, um den 732. Geburtstag unseres Landes zu feiern.
Ja, meine Damen und Herren, das Geburtsjahr unseres Landes ist 1291 – das Jahr des Schwurs auf den Freiheitsbrief.
732 Jahre! Es gibt nicht viele Länder auf der Welt, die schon so lange bestehen. Wir dürfen mit grosser Freude und Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, dass dieses Land 732 Jahre gelebt hat.
Ja, damals in einer Sommernacht des Jahres 1291, leisteten ein paar Männer aus der Urschweiz einen Schwur – einen ewigen
Schwur –, um die Zukunft des Landes zu gestalten.
«Wir wollen frei sein, wie die Väter waren.»
«Wir wollen keine fremden Richter haben», das heisst keine fremde Obrigkeit.
Wir lassen uns nicht Habsburg unterstellen.
Wir halten zusammen, und wenn einer angegriffen wird, dann werden wir ihm helfen – aber wir verlangen auch, dass Ämter, die die eigenen Leute übernehmen, sich nicht selber bevorteilen, sondern nur dem Land selbst, nämlich der Eidgenossenschaft, dienen.
Grosse Worte, werden Sie denken. Ja, aber wie die Geschichte zeigt: Diesen Worten folgten Taten.
Der unter Eid beschlossene Freiheitsbrief hat heute noch Gültigkeit. Er ist in der heute geltenden Bundesverfassung enthalten. Sogar schon in der Überschrift: Wie im Freiheitsbrief heisst es auch heute noch «Im Namen Gottes, des Allmächtigen.» Wir wissen also seit 732 Jahren, dass wir Gottes Hilfe brauchen.
Darum singen wir in der schweizerischen Nationalhymne: «Denn die fromme Seele ahnt, Gott im hehren Vaterland.»
Angriff auf den Tag der Geburt
Doch meine Damen und Herren, wer ein Auge auf die heutige Zeit wirft, muss erkennen: Viele – allzu viele – innerlich verwahrloste Gestalten möchten diese Geburtsstunde am liebsten weghaben. So wollen Mitglieder des Nationalrates in ihrer angeblich modernen, in Wahrheit pubertären Denkweise den 12. September 1848 – also den Tag, an dem man die Bundesverfassung erliess – als zusätzlichen Nationalfeiertag erklären. Also soll es neuerdings für den Organismus Schweiz mehrere Geburtstage geben.
Das kommt mir vor, wie wenn diese «Gstudierten» ihre eigene Geburt verleugnen würden, um dann zum Beispiel ihren Hochschulabschluss als Geburtstag zu feiern.
Das Vorleben – weitgehend von sorgsamen Eltern bestimmt – wäre ausgeklammert.
Sie sagen zwar – weil sie wissen, dass die Schweizer ihren Geburtstag von 1291 nicht verleugnen werden – man könne ja zwei Nationalfeiern abhalten, nämlich eine für 1291 und die andere für 1848. Aber ihr Motiv ist ein anderes: Sie wollen den Schwur zur Unabhängigkeit, zur selbständigen Schweiz nicht mehr, damit man frei ist, die Schweiz unter fremde Herrschaft – sei es in die Europäische Union, in die NATO, die Weltgesundheitsorganisation und viele dieser internationalen Clubs – zu zwängen.
Sie versichern mit allerlei Vernünfteleien und wichtigtuerischen Philosophien, dass es den Rütlischwur gar nicht gegeben habe. Man könne das nicht beweisen. Aber dass man auch das Gegenteil nicht beweisen kann, verschweigen sie wohlweislich.
Der Mythos
Ja, meine Damen und Herren, sowohl die Rütli-Geschichte als auch die Tell-Geschichte sind ein Mythos. Gerade das macht sie wertvoll. Sie strahlen die tiefe Wahrheit des Mythos aus.
Es sind Geschichten über längst vergangene Begebenheiten – in der Regel über Helden und Heldentaten –, die mündlich weitererzählt werden.
Aber wer dem nachgeht, entdeckt die tiefe Wahrheit der Mythen. In ihnen steckt mehr Wahrheit als in der gestrigen «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens!
Die Gründungsgeschichte unseres Landes beruht auf einer «alten heroischen» Geschichte, und sie ist gerade darum besonders wertvoll. Je länger der Mythos weitererzählt wird, desto mehr kommt die Wahrheit zum Ausdruck.
Die schwer zugängliche Wiese des Rütli, ein ewiger Schwur, das einsame Gelöbnis in dunkler Nacht, das drückt die Wahrheit des Handels in der Zeit grosser Not – «in der Arglist der Zeit», wie es im Bundesbrief heisst – aus. Daran kann man sich halten. Es ist zur Nachahmung empfohlen: Mythos macht Mut.
Ein Schwur mit den drei Fingern – im Namen des dreifaltigen Gottes des Allmächtigen, macht das Ganze bedeutungsschwer und gibt Mut zur Demut.
Die Wahrheit dieses Mythos ist überragend und ewig gültig. Das gibt Mut zum Handeln. Für die Schweiz schon seit 732 Jahren.
Wer sich an diesen Mythos hält, bekommt Mut, den richtigen Weg zu gehen. Wer die Wahrheit verwirft, führt das Land ins Abseits!
Und wenn wir so konsequent sind, wie die Männer am 1. August 1291 auf dem Rütli, steht es gut mit unserem Lande. Der Rütlischwur, dieser Mythos, macht Mut, die Zukunft zu gestalten.
Wilhelm Tell
Aber unser Land ist nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Gründungsmythen gesegnet.
Da ist auch die Geschichte von Wilhelm Tell, dem fast menschenscheuen Einzelgänger, der mit
der Sache der Eidgenossen sympathisiert, aber dennoch abseits bleibt. Er wird durch den Zwang der Umstände zum einsamen Tyrannenmörder, der das Land vom willkürlichen, grausamen Landvogt Gessler befreit. Gessler steht für den Unterjocher
der Schweiz und Tell für den Widerspenstigen, der sich weigert, dass Gessler sein Handwerk ausführen kann und es schliesslich mit seinem Leben bezahlen muss.
Für gemeinsame Sachen – heute würde man wohl von «Teamgeist» reden – ist Tell nicht geeignet. Er lehnt die Einladung aufs Rütli ab,
mit der kurzen Begründung: «Der Starke ist am mächtigsten allein.»
Der Schwur auf dem Rütli aber ist der Akt der Gemeinsamkeit und des Gemeinsinns oder, wie Schiller es ausdrückt: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.» Es ist das Gelöbnis, einander beizustehen, in der Stunde der Gefahr einander zu Hilfe zu eilen und keine fremde Herrschaft zu akzeptieren – «Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.»
Es ist der grosse deutsche Dichter Friedrich Schiller, der diesen Schweizer Mythos meisterhaft als Drama in Verse gegossen hat.
Tell ist die Wahrheit – gleichgültig, ob er gelebt hat, oder nicht.
Auch die anderen mythologischen Gestalten in Schillers «Tell» vermitteln wunderbare Lebenswahrheiten.
Beispielsweise die starken Frauen, die ihren oft mutlosen, verzagten Männern den Rücken stärkten und sie zu befreiender Tat anstacheln.
Etwa Gertrud Stauffacher, die ihrem zweifelnden Manne zuruft «Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich!» Gertrud ist die erste Triebfeder zur Befreiung des Vaterlandes.
All diese Helden des Alltags wären hier zu nennen. Es ist der Verdienst des Tell-Theaters in Interlaken, uns stets diese Wahrheiten vor Augen zu führen. Das – meine Damen und Herren – macht Mut: Danke dem Tell-Spieltheater, denn Mythos macht Mut!
Mit dem Mut des Mythos wird man stark, im realen, täglichen Leben. Diese Wahrheiten sind dauernd und damit hochmodern zu jeder Zeit. Sie sind heute nötiger denn je. Tell und seine Gestalten sind Vorbild.
Gottfried Keller hat es in seinem Gedicht «Die zwei Tellen-Schüsse» so beschrieben:
«Ob sie geschehen, das ist hier nicht zu fragen; Die Perle jeder Fabel ist der Sinn. Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin, der reife Kern von allen Völker Sagen.»
Die Geburtsurkunde
Unsere Gründungsmythen werden obendrein auch noch mit einem echten Gründungsdokument ergänzt. Der Bundesbrief, geschrieben im Sommer des Jahres 1291, liegt vor und ist für uns alle zu besichtigen im Bundesbriefarchiv in Schwyz.
Auf Pergament geschrieben, eine einzige Seite, 20 Zentimeter hoch und 32 Zentimeter breit. Er umfasst nur 17 Zeilen (Also nicht 1865 Seiten, wie die aktuelle schweizerische Lebensmittelverordnung. Aber raten Sie, welches von beiden Gesetzeswerken länger überdauern wird!)
Hinter diesem Bundesbrief steckt kein Herrscherwille, kein Expertengremium, da schrieben keine Staatsrechtsprofessoren irgendwelche ausgeklügelten Verfassungsgrundsätze. Es handelt sich um die Willenserklärung einfacher Landleute, die aber mit beiden Beinen in der Lebenswirklichkeit standen und das festhielten, was über 732 Jahre Bestand haben sollte.
Die Innerschweizer Landleute konnten nicht einmal lesen und schreiben, ein Mönch hat das für sie aufgeschrieben. Sie waren nicht studiert, aber sie waren gescheit!
Die alten Eidgenossen haben Grenzen gesetzt. Sie haben Nein gesagt zum habsburgisch-europäischen Verwaltungsstaat, der die Hand auf die Freiheit der Eidgenossen legen wollte.
Ja – meine Damen und Herren – das war vor 732 Jahren so, aber wer «Augen hat, der sehe, und wer Ohren hat, der höre!» Alles ist hochaktuell: Wie damals, wollen viele ihre Hand auf das «Schwiizer-Ländli» legen.
Nein, sagen wir, und der Mythos macht Mut:
Was damals galt, das gilt heute, und das gilt auch in Zukunft.
Erfolgsgeheimnis
Meine Damen und Herren, warum ist die Schweiz als einstiges Armenhaus von Europa zu einem der reichsten Länder der Welt geworden?
Der Mythos unserer Geburtsstunde ist das Überlebenskonzept – wenn Sie es modern wollen – das Businessmodell unserer Schweiz geworden, der ältesten Selbsthilfeorganisation der Welt. Und wenn wir uns daranhalten, wird es so bleiben.
Von unten, auf der einsamen Wiese, ist das Schweizer Haus gebaut worden. Und auf dieser Grundlage im 19. Jahrhundert mit der Bundesverfassung – ebenfalls ein Pionierwerk – renoviert worden.
Und zum Glück liegt das entscheidende Wort hierzulande bei den Menschen, den Bürgern, den Eidgenossen. Darum konnten bei uns nicht irgendwelche Monarchen oder Diktatoren Kriege anzetteln und unser Land beispielsweise in die Katastrophen und Höllenschlünde des 20. Jahrhunderts hineinreissen. So entstand die besondere schweizerische Neutralität, die uns vor mörderischen Kriegen schützte und schützen wird. Darum verlangen wir auch jetzt, wo leider der Krieg im Osten Europas zurückgekehrt ist, dass unsere Regierenden sich nicht aufspielen und einmischen, sondern «stillesitzen», neutral bleiben.
Die Erhaltung der Neutralität ist aktueller denn je!
Die schweizerische Neutralität geht – nicht juristisch – aber geschichtlich auf die denkwürdige Schlacht von Marignano von 1515 zurück – auch ein Mythos, der Mut macht für heute und morgen.
Schlusswort
Jonas Furrer aus Winterthur, der erste schweizerische Bundespräsident der modernen Eidgenossenschaft, richtete sich im Februar 1848 ganz direkt mit folgender Note an die ausländischen Mächte: «Die unabhängige Schweiz wird sich weiterhin selber regieren.»
Der Bundesbrief ist die Grundlage der schweizerischen Freiheit und der Selbstbestimmung nach aussen. Und die Bundesverfassung regelt die Schweiz im Innern: Durch diese wurden die Bürgerrechte und die Eigentumsgarantie, die Neutralität und die Marktwirtschaft zu einem nie geahnten Motor für Fortschritt und Wohlstand. Ohne den Mythos der Geburtsstunde der Schweiz mit dem Freiheitsbrief wäre die Schweiz nie das geworden, was sie ist, und ohne diesen Freiheitsbrief hätte es auch nie eine Bundesverfassung gegeben.
Meine Damen und Herren, unsere Mythen machen uns ebenso Mut wie die Taten unserer Ahnen. Wir müssen nicht bloss die Faust im Sack machen. Alle unsere Verfassungsgrundsätze und unsere Gesetze wären vorhanden, um Ordnung zu schaffen. Beispielsweise beim Problem der Massenzuwanderung, der drohenden 10-Millionen-Schweiz, aber auch im Asylchaos.
Der Bundesbrief und die Bundesverfassung sind die Absage an eine staatliche Machtanmassung und an die Einschränkung des Volkswillens. Der Kampf gegen «fremde Vögte» im Inland wie im Ausland bleibt eine Daueraufgabe. Es ist der dauernde Kampf um die Freiheit.
Die Mythen geben uns den Mut.
Ich schliesse mit dem grossen Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt:
«Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind.»
Mit dieser Botschaft, liebe Mitlandleute, wollen wir das 732. Lebensjahr unseres Landes in Angriff nehmen.