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Neutralität und direkte Demokratie: Ein Zukunftskonzept für eine friedlichere und besser regierte Welt?

Gegenwind für Neutralität und direkte Demokratie im ältesten direktdemokratischen Land der Welt.

Exklusives Interview mit Dr. René Roca

Schweizer Historiker und Direktor des Forschungsinstituts für direkte Demokratie, Mitglied des Initiativkomitees der Volksinitiative „Wahrung der schweizerischen Neutralität“ alias Neutralitätsinitiative (die im Interview erläutert wird).

Felix Abt: Herr Dr. Roca, wenn die Menschen in Asien „Schweiz“ hören, denken sie vor allem an Käse, Schokolade und Uhren. Darüber hinaus denkt man an das Bankgeheimnis und an Nummernkonten, obwohl letztere vor Jahren auf Druck der USA abgeschafft wurden, die die absolute Weltmarktführerschaft bei Steuerhinterziehung und Geldwäsche übernommen haben, was den meisten Menschen nicht bewusst ist. Wichtigere Merkmale wie direkte Demokratie und Neutralität sind ebenso wenig bekannt. Können Sie die Dinge für uns ein wenig zurechtrücken?

Dr. René Roca: Ich denke, dass hat damit zu tun, dass die Schweizer Bevölkerung relativ bescheiden ist, sie hängt ihr politisches System nicht an die grosse Glocke, dabei haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes.

Ein Austausch über politische Systeme wäre gerade mit Asien sehr wünschenswert, zumal ja zum Beispiel Indien ebenso wie die Schweiz einen föderalistischen Bundesstaat aufgebaut hat und zum Beispiel China mit dem Konfuzianismus ähnliche Werte vertritt wie die Schweiz. Die Schweiz muss unbedingt in Zukunft ihre zentralen Werte wie Neutralität und direkte Demokratie offensiver und selbstbewusster vertreten.

Seit Ende des letzten Kalten Krieges knickt die Schweiz vor allem gegenüber den USA immer wieder ein, anstatt deutlich den eigenen Standpunkt zu vertreten. Allenfalls gibt es halt dann eine Verstimmung, aber die USA verstehen nur eine klare Sprache. Die Schweizer Behörden von heute, besonders der Bundesrat, machen immer wieder einen Bückling und sind sehr bemüht, die Forderungen der USA sofort zu erfüllen (siehe auch Fusion von UBS und CS). Dabei spielen die Grossbanken eine fatale Rolle, indem sie immer wieder Druck auf den Bundesrat ausüben, da die USA bei Nichterfüllung ihrer Forderungen mit Sanktionen drohen.

Die Mainstream-Medien gehen in der Regel nicht darauf ein; eine Ausnahme bildet hier die englische Daily Mail, die auf das Lieblingsparadies für alle möglichen finsteren Gestalten hinweist. (Screenshot Schlagzeile Daily Mail)

Felix Abt: Die europäischen Großmächte haben die Neutralität der Schweiz auf dem Wiener Kongress 1814/1815 anerkannt. Heute üben die Großmächte des Kontinents, insbesondere die Europäische Union, Druck auf die Schweiz aus, damit sie ihre Neutralität aufgibt, wie sich gerade im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt gezeigt hat. Warum dieser Sinneswandel?

Dr. René Roca: Die europäischen Grossmächte anerkannten im Rahmen des Wiener Kongresses die immerwährende Neutralität, besonders der russische Zar notabene, der von Schweizer Privatlehrern unterrichtet wurde, und der das Land gut kannte, setzte sich für die Schweizer Neutralität ein. Man muss aber betonen, dass die Schweizer Vertreter, obwohl zerstritten, die immerwährende Neutralität ausdrücklich selber wollten, sie wurde der Schweiz also nicht, wie immer wieder behauptet wird, gnädig gewährt.

Zudem ist zu betonen, dass diese völkerrechtlichen Abmachungen bis heute gelten. Die Schweiz würde also Völkerrecht brechen, wenn sie jetzt einfach wegen dem Ukraine-Konflikt ihre Neutralität aufgeben würde (faktisch hat sie das allerdings bereits getan). Viele Medien in der Schweiz servieren uns einen eigentlichen Einheitsbrei und unterstützen die Angriffe der EU und der USA. Die EU will den Anschluss der Schweiz, da die Schweiz immer noch ein anschauliches Beispiel ist, dass man ohne EU mehr Erfolg hat.

Felix Abt: Die Schweiz war einst ein Magnet für berühmte Einwanderer aus der ganzen Welt, die Schweizer Bürger wurden. Dazu gehören Albert Einstein, der sich als Jugendlicher in der Alpenrepublik niederließ, dort Schulen besuchte und als Physiker lehrte, bevor er weltberühmt wurde, aber auch Lenin, der in Zürich die russische Revolution vorbereitete und von dort aus mit freundlicher Unterstützung des deutschen Kaisers mit dem Zug nach St. Petersburg reiste, um seine Pläne umzusetzen.

Die Einwanderer und Ingenieure Walter Boveri und Charles Brown waren die Begründer des ABB-Konzerns, heute ein weltweit führendes Unternehmen in der Automatisierungs- und Elektrotechnik,   

Der in Frankfurt geborene Heinrich Nestle gründete in der Schweiz das größte Lebensmittelunternehmen der Welt, und der Belgier March Rich gründete am Schweizer Zugersee Glencore, das größte Rohstoffhandels- und Bergbauunternehmen der Welt.

Und dann, vor einigen Jahren, liess sich der erfolgreiche Geschäftsmann Melnichenko mit seiner Familie in der Schweiz nieder, „wegen des Rechtsstaates, der Neutralität und der Freiheit“, wie er erklärte. Er wurde in Belarus geboren. Seine Mutter ist Ukrainerin, sein Vater Weißrusse. In jungen Jahren nahm er an zahlreichen Wissenschaftswettbewerben teil und gewann im Alter von siebzehn Jahren die russische „Physik-Olympiade“. Als gewiefter Unternehmer gründete er im Alter von 21 Jahren zunächst eine Bank und baute dann Produktionsbetriebe auf. Melnichenko ist Eigentümer von EuroChem, einem weltweit führenden Unternehmen in der Düngemittelproduktion, und von Kohleunternehmen. Seine Unternehmen, die von einer in der Schweiz ansässigen Holdinggesellschaft verwaltet werden, beschäftigen weltweit 130.000 Mitarbeiter.

In einem Interview sagte er der Schweizer „Weltwoche“ (der einzigen europäischen Zeitung, die sich für sein Schicksal interessierte): „Ich werde bestraft, weil ich Russe und reich bin.“ Über Nacht wurde er in der Schweiz zur Persona non grata. Dabei ist er weder ein „Oligarch“, noch gehört er zu „Putins innerem Kreis“, wie die Europäische Union und die Schweiz behaupten. Sogar seine Frau, ein kroatisches Model, wurde sanktioniert. Sein Vermögen (Gelder, Häuser, Autos usw.) wurde von der Europäischen Union und der Schweiz beschlagnahmt, und er darf nicht in die Alpenrepublik zurückkehren, wo seine Kinder zur Schule gingen.

Nun müssen Sie uns erklären, was urplötzlich mit der bisher neutralen und weltoffenen Schweiz passiert ist, die wie ein Unrechtsstaat in Nacht- und Nebelaktionen (ohne juristisches Gehör) Ausländern, die unauffällig in der Schweiz lebten und zum Wohlstand der Schweizer beitrugen, den Garaus macht?

Dr. René Roca: Ich finde es ist ein absoluter Skandal, wie mit russischen Menschen, die in der Schweiz wohnen und arbeiten oder hier Gäste sind, umgegangen wird. Die grassierende Russophobie ist unerträglich, sie wird aber auch durch die Mainstream-Medien tüchtig unterstützt. Zum Glück gab es nun immer wieder besonnene juristische Stimmen, die klar sagen, dass solche Vorgänge in einem demokratischen Rechtsstaat zu verurteilen sind.

Felix Abt: Die Abschaffer der Schweizer Neutralität sitzen nicht nur in Brüssel und Berlin, sondern auch in der Schweiz. Die mediale und politische Elite des Landes ist neutralitätsmüde und argumentiert, die Neutralität sei ein „Fetischismus“, die Schweiz sei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der NATO geschützt worden und bei illegalen Angriffskriegen müsse man sich mit den Angegriffenen solidarisieren und (sogar unter Missachtung der Schweizer Gesetze) auch Waffen liefern. Die Gegner der Neutralität sprechen von einem epischen Kampf zwischen Gut und Böse — und nicht auf der Seite des vermeintlich Guten zu stehen, sei gleichbedeutend damit, selbst Böses zu tun. Was ist an dieser Argumentation falsch?

Dr. René Roca: Es ist ein Mythos, dass die Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges von der NATO geschützt wurde. Die Schweiz war Teil der westlichen demokratischen Staaten, aber neutral. Sie hat wegen ihrem Neutralitätsverständnis sogar bis in die 60er Jahre an einer Atombombe geforscht und dieses Vorhaben erst in den 70er Jahren begraben. Das Argument für eine Atombombe war gerade, dass die Schweiz über eine eigene nukleare Abschreckung verfügen müsse, weil sie neutral und sich nicht unter den NATO-Schutzschirm begeben will. 

Die Schweiz war aber aussenpolitisch nicht passiv, im Gegenteil. Sie hat immer wieder ihre Guten Dienste eingebracht und konnte bei Kriegen vermitteln und im Hintergrund diplomatisch wirken. Viele Aktionen hängte die Schweiz nicht an die grosse Glocke, vieles sorgte nicht für fette Schlagzeilen, aber die stille diplomatische Hintergrundarbeit bewirkte in vielen Fällen, dass Konflikte gelöst werden konnten. Ich würde deshalb behaupten, dass die Schweiz im Kalten Krieg eine „diplomatische Grossmacht“ war. 

Punkto illegale Angriffskriege: Wer hat sich 1999 mit den Serben solidarisiert? Das war ein illegaler Angriffskrieg der NATO. Grundlage waren Kriegslügen. Wer hat sich 2003 mit dem Irak solidarisiert? Das war ein illegaler Angriffskrieg der USA mit Verbündeten. Grundlage waren Kriegslügen. Es gäbe noch einige weitere Beispiele. 

[Red.] In Artikel 185 (1) der Schweizerischen Bundesverfassung ist folgendes Ziel der Eidgenossenschaft festgelegt: “Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.”

Felix Abt: Ein Argument, das Neutralitätsgegner gerne anführen, ist, dass die Schweizer dank ihrer Neutralität während des Zweiten Weltkriegs zu opportunistischen Kriegsgewinnlern wurden. Was ist daran wahr?

Dr. René Roca: Während des Zweiten Weltkrieges war die Schweiz in einer Extremsituation. Sie war umgeben von totalitären Mächten und in ihrer Existenz massiv bedroht. Sie musste einen Weg zwischen Anpassung und Widerstand wählen und das Land und die Bevölkerung haben das insgesamt sehr gut gemeistert. Die immerwährende bewaffnete Neutralität war ein wichtiger Grund, wieso die Schweiz nicht besetzt wurde, obwohl die deutschen Angriffspläne vorlagen und immer wieder der Kriegssituation angepasst wurden. Letztlich hatte die Schweiz auch Glück, dass Nazi-Deutschland den Fokus auf den Angriff gegen die Sowjetunion legte. Es war dann auch die Sowjetunion, die am meisten Opfer zu beklagen hatte, die aber auch für die entscheidende Kriegswende sorgte.

Was für die Schweiz, auch wenn Sie Fehler machte, nie zur Disposition stand, waren das humanitäre Engagement (IKRK) und die die Guten Dienste des Landes. Im Rahmen der Guten Dienste betreuten am Ende des Krieges 1200 Personen 319 Einzelmandate für 35 Länder. Eine unglaubliche Leistung! Leider gibt es dazu nur wenige Forschungsarbeiten.

Direkte Demokratie
[Red.] Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger stimmen drei- bis viermal pro Jahr über eine Vielzahl von nationalen, kantonalen (staatlichen) und kommunalen Themen ab. Auf kommunaler Ebene entscheiden sie beispielsweise über das Bildungswesen (Kindergarten und Grundschule), die Abfallentsorgung, die Gemeindestraßen, die lokale Infrastruktur, die Kultur- und Sportzentren, die Gemeindepolizei, die Raumplanung und die Waldbewirtschaftung, die Bürgerrechte und die Gemeindesteuern.
Die Schweizerinnen und Schweizer haben auch das Recht auf ein Referendum, mit dem sie Entscheidungen des Parlaments bestätigen oder aufheben können, und sie können das zusätzliche Recht der Volksinitiative nutzen, um Änderungen der Verfassung durchzusetzen. So wurde beispielsweise kürzlich eine Volksinitiative zum Verbot von Tabakwerbung an Orten, an denen sie für Kinder und Jugendliche sichtbar ist, mit 56 % angenommen. Mit diesen beiden zentralen politischen Bürgerrechten in der Schweiz können die Bürgerinnen und Bürger direkt Einfluss auf die Politik nehmen, indem sie Gesetzesänderungen verhindern oder erwirken.
Außerdem muss jede vom Parlament vorgeschlagene Verfassungsänderung von einer Mehrheit des Volkes und der Kantone gebilligt werden, damit sie in Kraft treten kann. 
Die direkte Demokratie hat die Zentralisierung und die Anhäufung von Macht begrenzt und zu moderaten und gezielteren öffentlichen Ausgaben und einer kleinen, bürgerfreundlicheren Bürokratie geführt.

Felix Abt: Neutrale Staaten müssen stark genug sein – militärisch und ideologisch -, um Kritik und Drohungen von allen Seiten eines Konflikts standzuhalten und ihre unabhängige Position zu wahren. Selbst ein großes Land wie Indien, das über weitaus mehr Ressourcen als die Schweiz verfügt, wurde vom Westen unter Druck gesetzt, im russisch-ukrainischen Konflikt Partei zu ergreifen (was ihm allerdings nicht gelungen ist). 

Die Aufrechterhaltung einer unabhängigen Politik, die nicht den Wünschen der Kriegsparteien folgt (sei es in einem bewaffneten Krieg oder in einem Handelskrieg), ist äußerst schwierig und erfordert eine ständige Auseinandersetzung mit allen Konfliktparteien, die Einhaltung von Prinzipien und diplomatisches Geschick. Dazu gehört auch die Glaubwürdigkeit, die die Schweiz im Zweiten Weltkrieg bewiesen hat, als sie im Falle einer deutschen Invasion mit der Sprengung ihrer Infrastruktur drohte und ankündigte, sich vehement zu verteidigen. 

Schon im Jahr 1815 hatte die Schweiz ausdrücklich anerkannt, dass ihre Neutralität dem Frieden und der Stabilität in Europa dienen würde, indem sie die Österreicher und Franzosen abpuffert – eine Rolle, die sie später während der Weltkriege spielte. Durch die Übernahme der Sanktionen der Europäischen Union nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wurde die Schweiz jedoch zu einer Partei im Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland und wurde von diesem nicht mehr als neutral betrachtet und als ehrlicher Vermittler im Ukraine-Konflikt akzeptiert.

Im Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz ihre Neutralität und Unabhängigkeit erfolgreich verteidigt, im Ukraine-Krieg nicht, im Gegensatz zu Indien, um nur ein Beispiel zu nennen. Warum hat es in einem Fall funktioniert und im anderen nicht?

Dr. René Roca: Ich bedaure sehr, dass die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland übernommen hat und ständig weiter übernimmt, und somit Kriegspartei ist. Die Grossmächte, allen voran Russland, bringen der Schweizer Neutralität kein Vertrauen mehr entgegen, was ich verstehe. Die Schweizer Neutralität hat massiv an Glaubwürdigkeit verloren, ich sage sogar, die Schweiz hat ihre Neutralität abgeschafft. Wieso? Die Schweizer Bevölkerung hat zunehmend verlernt ihre Werte zu verteidigen, daran sind wohl der Wohlstand und eine gewisse Bequemlichkeit schuld. Wichtig ist aber auch, dass seit den 1990er Jahren auf die Schweiz, besonders aus den USA, viel Druck ausgeübt wurde. Die Schweiz müsste wie im Zweiten Weltkrieg eine „Geistige Landesverteidigung“ aufbauen und sich vehement gegen Angriffe von aussen wehren. Unsere politische Elite macht das zu zögerlich und ist oft zudem in ausländische Abhängigkeiten und Seilschaften verstrickt. 

Während des Zweiten Weltkrieges gab es in der Schweiz einen „antitotalitären Konsens“, der breit in der Bevölkerung verankert war. Dieser Konsens beruhte auf dem Bekenntnis zur immerwährenden bewaffneten Neutralität und dem Willen unabhängig und frei bleiben zu wollen. Als damals der Bundesrat ins Wanken kam und sich den neuen europäischen Verhältnissen anpassen wollte, reagierte General Guisan richtig und hat diesen Konsens neu begründet und den Widerstandswillen der Bevölkerung ungemein gestärkt. 

Felix Abt: Es wird oft argumentiert, dass ein neutrales Land strategisch im Nachteil ist, weil es sich nicht auf externe Unterstützung verlassen kann, um Bedrohungen zu begegnen. Besteht die beste Sicherheitsgarantie, die ein Staat bekommen kann, nicht darin, dass er für die kriegführenden Staaten nützlich ist?

Dr. René Roca: Die Schweiz hat diese Nützlichkeit mit den Guten Diensten immer wieder bewiesen und kriegsführende Staaten waren froh auf neutralem Boden Friedensverhandlungen zu initiieren. Oft gingen diesen Verhandlungen Geheimverhandlungen um einen Waffenstillstand voraus, der mit den Kriegsparteien ebenfalls auf neutralem Boden geführt werden musste. Heute verlangen die USA von der Schweiz, sich dem westlichen Bündnis anzuschliessen, dieses Blockdenken ist absurd. Schaut man die Geschichte an, so ist gut zu erkennen, dass Allianzen und Bündnisse oft nicht den Frieden förderten, sondern im Gegenteil immer wieder für einen kriegerischen Flächenbrand sorgen können. Die Nützlichkeit eines neutralen Staates ist hier, dass er nicht kriegerisch involviert ist und besonnen auf beide Kontrahenten zugehen kann.

Felix Abt: Kritiker wenden ein, dass auch die Ukraine eine Neutralitätsklausel in ihrer Verfassung hat und dennoch von ihrem russischen Nachbarn angegriffen wurde. Liegt es daran, dass das Land seit dem Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung 2014 de facto zu einem NATO-Land geworden ist?

Dr. René Roca: Ich denke, eine Lösung für die Ukraine wäre sicher, die Erklärung einer immerwährenden Neutralität und die Föderalisierung ihres Staatsgebietes, und damit die Respektierung der Grundrechte von Minderheiten.

Mit den Minsker-Abkommen I und II wurden wichtige Grundlagen gelegt, um den Konflikt mit Hilfe der OSZE zu lösen. Nun wurde klar, so die Aussagen u.a. der ehemaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dass man die Abkommen nur machte, um der Ukraine Zeit zu verschaffen und sie aufzurüsten. Ein unglaublicher Vorgang! Der Westen hat damit das Vertrauen völlig verspielt. Fakt war, dass die NATO im Windschatten der Gespräche militärische Stützpunkte in der Ukraine aufbaute und das Land massiv aufrüstete, was für Russland eine grosse Bedrohung war. Der Ukraine-Krieg ist zu einem eigentlichen Stellvertreter-Krieg mutiert.

Felix Abt: Es scheint einen direkten Zusammenhang zwischen der Neutralität und der direkten Demokratie zu geben, denn letztere hat die Neutralität bisher vor der Abschaffung bewahrt. Die grosse Mehrheit des Schweizer Volkes ist für die Neutralität und die direkte Demokratie, während die Medien und die politischen Eliten eher dagegen sind. In der direkten Demokratie hingegen hat das Volk das letzte Wort. Wie bedroht ist aber die direkte Demokratie, nachdem der Volkswille bereits in sogenannten Volksinitiativen von Parlament und Regierung missachtet wurde?

Dr. René Roca: Ja, der Volkswille wurde in der Schweiz schon einige Male nicht umgesetzt. Es ist aber wichtig, hier nicht aufzugeben und immer wieder von Neuem anzusetzen. Das Schweizer Volk ist in unserem System die grösste Opposition, und das weiss die Politik. Deshalb braucht es immer wieder Volksinitiativen, die in der Bevölkerung eine Diskussion anstossen und zu Änderungen führen können und auch zu einer Korrektur der Politik. 

Deshalb haben wir nun auch die „Neutralitäts-Initiative“ lanciert. Ich bin im Initiativkomitee, das den Text ausgearbeitet hat. Im Moment läuft die Unterschriftensammlung. Wir benötigen für die Verfassungsinitiative 100‘000 Unterschriften in 18 Monaten. Bald haben wir die Unterschriften beisammen, dann kommt es zu einer Abstimmung. Im Moment wird die Neutralität in der Schweizer Bundesverfassung nur am Rand erwähnt. Wir möchten die Verfassung mit folgendem Artikel ergänzen:

Eidgenössische Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)» 
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert: 
Art. 54a Schweizerische Neutralität 
1 Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet. 
2 Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs. 
3 Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten. 
4 Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.

Ich freue mich, diese Initiative mit der Schweizer Bevölkerung zu diskutieren und hoffe, dass wir die Schweizer Neutralität wieder als festen Wert verankern können, zum Wohle der Schweiz und der ganzen Welt.

Felix Abt: Zustimmung erhalten Sie von keinem Geringeren als dem ehemaligen Oberbefehlshaber der deutschen Bundeswehr, General Harald Kujat. Ausgerechnet dieser ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses ruft in einem kürzlich veröffentlichten Interview die Schweizer dazu auf, die Neutralität „mit Händen und Füssen“ zu verteidigen. Sind Sie überrascht?

Dr. René Roca: Ich bin nicht wirklich überrascht und sehr froh, dass das einseitige Narrativ des Westens, dass sich die Schweiz dem NATO-Block anschliessen muss, korrigiert wird. Neben Kujat gibt es nun immer mehr Stimmen, die den Wert der Schweizer Neutralität verstanden haben und die Schweiz unterstützen, an der Neutralität festzuhalten und sie wieder zu stärken. Nur so kann die Schweiz segensreich wirken und in kriegerischen Konflikten Hand bieten, den Frieden wieder zu gewinnen.

Die Schweiz: multikulturell, direktdemokratisch und neutral. Und ein Zitat von Albert Einstein, der sich als Jugendlicher in der Alpenrepublik niederließ und das Schweizer Bürgerrecht erhielt.

Felix Abt: Es sieht so aus, als sei die Schweiz immer noch das demokratischste Land der Welt. Umfragen haben gezeigt, dass die Schweizer (wie auch, vielleicht überraschend, die Chinesen) mit ihrem Regierungssystem am zufriedensten sind. In China gibt es etwa 500 Demonstrationen pro Tag, die in der Regel mit Kompromissen zwischen den Unzufriedenen und den lokalen Behörden beendigt werden; in der Schweiz gehen die Bürger weniger auf die Straße und mehr zur Wahlurne, um zu korrigieren, was ihrer Meinung nach schief läuft. Dennoch gibt es unter den politischen und medialen Eliten der Schweiz viele Zweifler, die zum Beispiel argumentieren, dass sich relativ wenige Bürgerinnen und Bürger an direktdemokratischen Entscheidungen beteiligen oder dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit vielen Sachfragen überfordert sind. Was entgegnen Sie ihnen?

Dr. René Roca: Ich bin Geschichtslehrer an einem Gymnasium. Wichtiger Unterrichtstoff ist die Schweizer Geschichte und die Staatskunde. Bildung und Erziehung haben eine wichtige Aufgabe, um mündige Bürger zu schaffen, die fähig sind, sich auch mit komplexen Sachfragen zu beschäftigen. Für die direkte Demokratie ist das zentral. Leider hat das Fach Geschichte, und damit auch die Staatskunde heute einen schweren Stand. An der Volksschule wurde das Fach Geschichte abgeschafft und integriert in ein sogenanntes Sammelfach. Staatskunde ist ebenfalls nicht mehr obligatorisch. An Schweizer Universitäten gibt es keinen Lehrstuhl mehr für Schweizer Geschichte und für Neutralität schon gar nicht. Wir müssen nach Japan blicken, dort gibt es einen Lehrstuhl für Neutralitätsforschung.

Wir müssen also wieder mehr in Bildung und Erziehung investieren, dann werden sich auch wieder mehr Bürgerinnen und Bürger beteiligen.

Felix Abt: Zusammengefasst: Die Neutralität hat der Schweiz, einem Land ohne Bodenschätze, ohne Zugang zum Meer und mit relativ wenig Ackerland (und damit ohne Ernährungssicherheit), über lange Zeit Frieden gebracht, die direkte Demokratie eine schlanke, bürger- und wirtschaftsfreundliche Verwaltung und (neben der Neutralität) einen hohen Wohlstand.

Andererseits vermitteln die Mitgliedschaft Finnlands und der Antrag Schwedens auf Beitritt zur NATO, also ehemals neutraler Staaten, den Eindruck, dass es um die Neutralität nicht gut bestellt ist. Selbst die Bewegung der Blockfreien Staaten bewegt sich auf die BRICS zu und wird wohl zumindest teilweise von ihm absorbiert werden, einem Block, wenn man es so nennen kann, der von China und Russland angeführt wird. Kann das Erfolgsmodell der Schweizer Neutralität noch auf andere Länder übertragen werden, und wenn ja, wem würden Sie es empfehlen?

Dr. René Roca: Ich würde es allen Ländern empfehlen. Wenn alle Länder nach Schweizer Modell (das wir nun wieder herstellen müssen) dauernd neutral wären und klar machen würden, dass sie diese Neutralität bewaffnet verteidigen, gäbe es keine Kriege mehr.

Ich sehe die Entwicklung mit den BRICS-Staaten sehr positiv. Nun sind ja neue Länder dazu gekommen. Diese Staaten arbeiten an einer multipolaren Welt. Interessant ist ja, dass nur die westlichen Staaten die Sanktionen gegen Russland übernommen haben, die ganze übrige Welt (Lateinamerika, Afrika und Asien) aber nicht. Diese Länder sind in der Mehrheit und haben genug, sich von den USA alles diktieren zu lassen. Hier erleben wir einen wichtigen „Wendepunkt“ der Geschichte. Man muss sich die Zeit nehmen, um zum Beispiel Reden des indischen Aussenministers oder der südafrikanischen Aussenministerin zum Thema der globalen Weltordnung zu studieren. Ich finde es erstaunlich und sehr ermutigend, wie selbstbewusst diese Politiker auf dem Hintergrund der kolonialen und imperialen Vergangenheit argumentieren und klar machen, dass sie heute einen eigenen, selbstbestimmten Weg gehen wollen. Gut wäre es natürlich, wenn diese Staaten eine immerwährende, bewaffnete Neutralität in ihrer Landesverfassung verankern würden.

Felix Abt: Aus geopolitischer Sicht stellt sich die Frage, welchen Unterschied es für die Vereinigten Staaten macht, ob die Ukraine neutral ist oder nicht. Als Dwight D. Eisenhower, ehemaliger General und Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg, Präsident der Vereinigten Staaten war, begrüßte er letztlich die Neutralität Österreichs. Er argumentierte, dass „wir nicht die Mittel haben, um alle diese (nicht neutralen) Länder zu verteidigen“. Ist seine Argumentation damals nicht genauso gültig wie heute?

Dr. René Roca: Eisenhower unterschätzte wohl den Wert der Neutralität. Die Neutralität muss – wie gesagt – bewaffnet sein. Ein neutrales Land darf nicht auf einen Schutzschirm angewiesen sein, sondern muss sich autonom verteidigen können.

Nach diversen Armee-Reformen ist die Schweizer Armee nicht mehr fähig, das Land zu verteidigen. Auch in diesem Bereich sind also Korrekturen dringend angesagt, die Schweiz muss ihre militärische Verteidigungsbereitschaft auf allen Ebenen wieder erhöhen und massiv stärken.

Felix Abt: Kann ein neutrales Land noch eine konstruktive Rolle in den neuen globalen Auseinandersetzungen spielen oder wird es an den Rand gedrängt?

Dr. René Roca: Gerade in einer multipolaren Welt, die nun entsteht, haben neutrale Länder eine wichtige Rolle. Konflikte wird es weiterhin geben. Es braucht Länder, die für Ausgleich und Versöhnung stehen und sich klar für den Frieden einsetzen.

Felix Abt: Gibt es noch etwas hinzuzufügen im Zusammenhang mit der direkten Demokratie und der Neutralität als friedensstiftende Elemente?

Dr. René Roca: Wir müssen in der Schweiz nun einen langen Atem entwickeln, um die direkte Demokratie (vor allem gegenüber der EU) zu verteidigen und die Neutralität wieder herzustellen (siehe Neutralitätsinitiative). Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das besonders mit der jungen Generation schaffen und so wieder zu einem Vorbild für die Welt werden.

Herr Dr. Roca, wir danken Ihnen für das Gespräch.

(Das Interview wurde zuerst von dem asiatischen Internetmagazin Eastern Angle veröffentlicht).