Fünf Jahre nach dem Brexit lässt sich feststellen: Die wirtschaftlichen Ambitionen der Brexit-Befürworter:innen haben sich nicht erfüllt. Aber umgekehrt ist auch die von den Brexit-Gegner:innen angekündigte Katastrophe nicht eingetreten.
Inmitten apokalyptischer Analysen über den Zustand des Vereinigten Königreichs ist dies die ungewöhnliche Schlussfolgerung, zu der René Schwok, Honorarprofessor für europäische Studien an der Universität Genf, in einem kürzlich von Le Temps veröffentlichten Artikel gelangt ist.
Zudem sprechen die Wachstumsraten Grossbritanniens seit Inkrafttreten des Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU (2020) eine klare Sprache: Sie liegen weit über denen Deutschlands und entsprechen ungefähr dem Niveau der Eurozone.
Gemäss OECD-Prognosen wird sich diese Performance in diesem Jahr noch weiter steigern. Die britische Wirtschaft ist zwar nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarktes, aber es geht ihr insgesamt gut. Selbst die regierende Labour-Partei verlangt keine Rückkehr in die EU mehr.
«Europäisches Narrativ»
Diese Diskrepanz zwischen düsteren Schilderungen der britischen Wirtschaftslage und makroökonomischer Realität wirft die Frage auf, was in der Schweiz seit über 30 Jahren geschieht. Zumal es ein «europäisches Narrativ» gibt, das mehr oder weniger die offizielle Version des Schweizer Verhältnisses zur EU geworden ist.
Und das geht so: Es beginnt mit den 1990er-Jahren, die als Stagnationsphase der Wirtschaft gezeichnet werden. In den 2000er-Jahren folgte dann ein spektakulärer Aufschwung – dank der sektoriellen Abkommen I und II mit der EU und somit dank des «heiligen bilateralen Wegs».
Dieser Weg war ursprünglich dazu gedacht, die Schweizer Wirtschaft schrittweise vollständig in den Regulierungsapparat der EU zu integrieren. Die Schweiz gab dieses Ziel später auf, aber die EU hat es nicht vergessen.
Doch es reicht, die Wachstumsraten ab 1990 aneinanderzureihen, um zu erkennen, dass sich die fortwährende Rede von der «Erlösung durch die Bilateralen» als Mythos entpuppt.
Die Erholung der Schweizer Wirtschaft – die in der Tat spektakulär war – begann 1997. Fünf Jahre vor den bilateralen Abkommen I und der schrittweisen Umsetzung der Personenfreizügigkeit. Zehn Jahre vor ihrer vollständigen Umsetzung.
Minimale Vorteile
Diese Blickweise auf die Vergangenheit bestätigte vor kurzem Professor Tobias Straumann von der Universität Zürich, einer der wenigen Wirtschaftshistoriker in der Schweiz.
Das heisst: Der bilaterale Weg hat nicht viel zum Wohlstand der letzten 25 Jahre beigetragen. Im Übrigen wurde diesen Verträgen mehrfach vom Volk nur unter Druck der EU zugestimmt (Guillotine-Klausel, Einschüchterungen und Sanktionen ab 2014).
Es gibt weitere Gemeinplätze in der Debatte über die europäische Integration der Schweiz, welche die lebenswichtige Bedeutung der bilateralen Verträge unterstreichen sollen.
Ein Beispiel dafür ist das Abkommen von 1999 über den Abbau technischer Handelshemmnisse («Mutual Recognition Agreement», MRA).
Es ist das einzige mit eindeutig handelspolitischem Charakter in den Bilateralen I und II. Die anderen Abkommen sind vor allem nachbarschaftlicher oder kooperativer Natur.
Dank des MRA können die Zulassungskosten von Produkten für den europäischen Markt gesenkt werden. Die Einsparungen betragen jedoch gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) nicht einmal …1,5 Prozent eines Drittels der Verkaufssumme in Europa.
Das entspricht einem winzigen Betrag im Vergleich zur Verteuerung der Schweizer Exporte aufgrund des chronischen Verfalls des Euro gegenüber dem Franken (30 Prozent Werteinbusse seit 2000).
Akademische Lobby schürt Ängste
Der wichtige Sektor der Medizintechnik (Medtech) ist seit vier Jahren als Vergeltungsmassnahme durch die EU von diesem «MRA-Privileg» ausgenommen.
Dabei ging es dieser Branche noch nie so gut wie heute, mit beneidenswerten Wachstumsraten. 90% der Exporte auf den europäischen Markt stammen von Unternehmen, die es seit langem vorziehen, auf diese Erleichterung zu verzichten (um ihre Produkte direkt in der EU zuzulassen).
Die mächtige akademische Lobby hat eine Gabe, Ängste zu verbreiten. Etwa die folgende These: Wenn die EU die volle Teilnahme ihrer Forschenden am Horizon-Programm verhindert, steht die innovative Schweiz vor dem Aus.
In Wirklichkeit macht der Beitrag der Eidgenossenschaft zu Horizon nicht einmal 3% der Investitionen in Forschung und Entwicklung der Schweiz aus (öffentliche und private).
Vor allem: Seit die Schweiz ihren Status als assoziiertes Mitglied im Programm Horizon verloren hat, was wieder einmal als Vergeltungsmassnahme erfolgte (2020), haben die helvetischen Hochschulen nichts von ihrer Attraktivität eingebüsst. Sie rekrutieren weiterhin Forschende aus Europa und der ganzen Welt.
Die Personenfreizügigkeit aus EU-Sicht…
Die Personenfreizügigkeit ist das Herzstück des von der EU geforderten bilateralen Wegs. Brüssel legt grossen Wert darauf. Dabei geht das Freizügigkeitsprinzip weit über die migrationspolitischen Dimensionen hinaus.
Denn die Freizügigkeit betrifft Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Ohne diese vierfache Freiheit würde jede Aussicht auf eine spätere rechtliche Integration verloren gehen.
Im Gegensatz zur Schweiz hat die EU das Ziel nie aufgegeben, das schrittweise über den bilateralen Weg erreicht werden sollte: Den EU-Beitritt der Schweiz.
Die EU hat viel Zeit, aber die Geduld ist nach dem Brexit-Schock verflogen. Populistische Bewegungen sind in ganz Europa auf dem Vormarsch.
Die Schweiz wird immer mehr als blinder Passagier der EU wahrgenommen. Hat die EU nicht einseitig entschieden, dass die Schweiz de facto Teil des europäischen Marktes sein soll?
Die EU muss nun die Regeln dafür erlassen, um einer Entwicklung ein Ende zu setzen, welche sie selbst als «unlauteren Wettbewerb» betrachtet.
Aus EU-Sicht haben Schweizer Unternehmen auf den Weltmärkten einen unfairen Vorteil, weil sie die europäischen Regulierungen nicht integrieren und tragen müssen
Ursprünglich, in den 1990er-Jahren, konnte es nur zum Nachteil gereichen, nicht Teil des europäischen Marktes zu sein. Heute wird der wirtschaftliche Erfolg einer Schweiz, die nicht Teil dieses Marktes ist, als eine Art Betrug gesehen.
…und aus der Sicht der Schweiz
Über die Personenfreizügigkeit gehen die Meinungen in der Schweiz stark auseinander. Auf politischer Ebene ist die dritte nationale Volksinitiative der SVP unter dem Namen Keine Zehn-Millionen-Schweiz pendent, welche im Falle einer Annahme das Ende der Personenfreizügigkeit bedeuten würde.
Die «vorgängige Ablehnung» dieser SVP-Volksinitiative scheint daher notwendig, damit eine weitere Abstimmung über das 2024 mit der EU ausgehandelte institutionelle und sektorbezogene Paket stattfinden kann.
Es ist offensichtlich, dass das allgemeine politische Klima momentan nicht gerade förderlich ist für gute Beziehungen mit der EU.
Die Zunahme von EU-Bürger:innen in der Schweiz scheint kein Ende zu nehmen. In den 1990er-Jahren und noch im Jahr 2000 lagen die Prognosen des Bundesrates bei 10’000 zugewanderten Personen aus dem EU-Raum pro Jahr.
Wirtschaftsorganisationen hatten sogar von «nur» 8000 gesprochen. Seit der vollständigen Umsetzung des Abkommens (2007) liegt der Jahresdurchschnitt in Wirklichkeit bei 48’000 – das entspricht der Bevölkerung der Stadt Neuenburg. Dazu kommen noch 20’000 zugewanderte Personen aus aussereuropäischen Drittländern (ohne Asylsuchende).
Entgegen den regelmässig zu hörenden Behauptungen gibt es nicht den geringsten Zusammenhang zwischen dem jährlichen Wachstum des Bruttosozialprodukts und der europäischen Einwanderung.
Es gab sehr gute Jahre für die Wirtschaft, in der die Migration eher gering war, während der Migrationssaldo mit der EU mitten in der Rezession (2020) bei 40’000 Personen lag.
Eine demografische Blase?
Parallel dazu stieg die Arbeitslosigkeit in der Schweiz gemäss der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) an. Im Jahr 2000 betrug die Quote weniger als 2%, heute liegt sie bei etwa 4,5%. Damit nähert sie sich dem gesamteuropäischen Durchschnitt sowie dem Wert in der Eurozone (+/- 6%).
Welchen Anteil hat das Wachstum der Erwerbsbevölkerung am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts? Das ist schwer zu messen. Welche Art von Krise wird also nötig sein, um eine mögliche demografische Blase zum Platzen zu bringen? Oder anders gefragt: Welche Art von Krise wird die Blase auslösen, wenn sie platzt?
Wird es dann der richtige Zeitpunkt sein, um komplizierte Gespräche mit Brüssel zu führen, beispielsweise um die in den bilateralen Verträgen vorgesehene Schutzklausel «im Falle ernsthafter wirtschaftlicher oder sozialer Schwierigkeiten» zu aktivieren?
Welche Art von «ernsthaften Schwierigkeiten» könnte die so wohlhabende und ruhige Schweiz in den Augen der EU haben? All dies sind Fragen, auf die bald eine Antwort gefunden werden muss.
Der Originalartikel wurde von Swissinfo am 19.03.2025 veröffentlicht und hier mit freundlicher Genehmigung des Autors, François Schaller, wiedergegeben.
Quelle: https://www.swissinfo.ch/

François Schaller,
Wirtschaftsjournalist und Vorstandsmitglied des Unternehmer-verbands Autonomiesuisse