Im Ukrainekonflikt wird der Schweiz von Russland und China vorgeworfen, sie sei nicht mehr neutral. Gleichzeitig rügen Vertreter westlicher Länder, die Schweiz tue nicht genug für die Ukraine. Macht die Schweiz nun zu wenig oder zu viel?
Paul Widmer: Mit dem Entscheid des Bundesrates am 24. Februar 2022, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, haben wir einen Fehler begangen. Die Schweiz sandte sowohl nach innen wie nach aussen ein völlig falsches Signal. Nicht nur Russlands Präsident Putin fand, die Schweiz sei nicht mehr neutral, sondern auch US-Präsident Biden. Die Reaktion in der Weltpresse war nicht anders. Wenn die beiden Hauptantagonisten in diesem Krieg denken, die Schweiz sei nicht mehr neutral, dann haben wir etwas falsch gemacht, in der Kommunikation und der Sache selbst. Später machte es der Bundesrat dann besser, als er sich bei der Waffenausfuhr auf Neutralitätsprinzipien berief und als er den Rechtsstaat vor dem Druck der G7 in bezug auf Oligarchengelder verteidigte.
Christoph Frei: Dass die einen finden, man mache zu viel, und die anderen, zu wenig, liegt in der Natur der Neutralität. Jede Seite hat ihre eigenen Interessen. Ich gebe Paul Widmer recht, dass die Schweiz im Februar 2022 krasse Fehler gemacht hat. Der Neutrale lebt vom Vertrauen anderer in diese Haltung. Wenn man am 24. etwas sagt und vier Tage später etwas anderes erzählt, dann muss man
sich nicht wundern, wenn rundum die Stirn gerunzelt wird. Das Umschwenken belegt aber auch, dass wir in der praktischen Auslegung unserer Neutralität nicht mehr unabhängig sind.
Versteckt sich die Schweiz hinter ihrer Neutralität?
Frei: Neutralität kann in der Tat auch dazu dienen, Interessenlagen wirtschaftlicher Natur zu bemänteln. Unabhängig davon habe ich Christoph Blocher gut verstanden, als er in der Woche nach dem Angriff Russlands beklagte, dass wir nicht mit mehr Mut zur integralen Neutralität stehen.
Man hat diese Sanktionen übernommen, mit massiven Implikationen auch für das Inland. Widerspricht die aktive Suche und Ahndung russischer Gelder und Eigentumsrechte in der Schweiz ihrem Neutralitätsanspruch?
Frei: Das Neutralitätsrecht regelt Wirtschaftsbeziehungen nicht; diese sind Teil der Neutralitätspolitik. Man muss zuerst festlegen, wovon man spricht.
Aber kann man diese beiden Dinge so klar trennen? In Ihrem Buch, Herr Widmer, schreiben Sie: «Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.»
Widmer: Intellektuell kann man zwischen Neutralitätspolitik und -recht unterscheiden. Doch es ist eine Illusion zu glauben, man könne die Neutralität auf das Neutralitätsrecht beschränken – weil dabei das wesentliche Element fehlt: das für die Neutralität notwendige Vertrauen. Neutralität ohne Vertrauen gibt es nicht.
Frei: Analytisch kann man Neutralitätspolitik und -recht auseinanderhalten. Im praktischen Alltag kann man es nicht. Wenn wir zehn Sanktionspakete gegen Russland mittragen und behaupten, wir seien neutral, gibt es eine starke Spannung zwischen dem, was man gemäss Neutralitätsrecht tun darf, und dem, was bei den Menschen im Inund Ausland als Botschaft ankommt. Die differenzielle Neutralität ist besonders schwer zu vermitteln: Wir stellen uns neutral auf, tragen aber Sanktionen mit. Als ob Politik und Wirtschaft auseinandergehalten werden könnten.
Das würde gegen die differenzielle Neutralität und gegen Sanktionen sprechen.
Frei: Es spricht nicht unbedingt gegen diese Variante der Neutralität; sie ist nur anspruchsvoller zu vermitteln.
Widmer: Es gibt eindeutiges Neutralitätsrecht, das man einhalten muss. Dass hierbei zurzeit Verwirrung herrscht, sieht man im Parlament. Waffenlieferungen an die Ukraine sind gemäss Kriegsmaterialgesetz verboten, gemäss Neutralitätsrecht nicht. Ändern wir aber jetzt das Kriegsmaterialgesetz, dann tun wir das, um Kriegsmaterial an die Ukraine indirekt liefern zu können – und das ist wiederum eine Verletzung des Neutralitätsrechts. Das Parlament sollte deshalb das Nichtwiederausfuhrverbot streichen. Und die Schweiz sollte sich an das halten, was wir aufgrund unserer Tradition ohnehin tun würden: kein Kriegsmaterial an kriegführende Staaten zu liefern. Was nichtkriegführende Staaten wie Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt tun, liegt in deren eigener Verantwortung. Ein zweiter Punkt betrifft die Wirtschaftssanktionen, bei denen die Schweiz eine klare Linie verfolgen muss. Sie schliesst sich Sanktionen von anderen Staaten nur im Einzelfall und nach gründlicher Prüfung an. Aber sie unternimmt alles, um die Zwangsmassnahmen nicht zu unterlaufen.
Sollte die Schweiz überhaupt Aussenpolitik betreiben? Lange war unsere Aussenpolitik eigentlich nur Aussenwirtschaftspolitik.
Frei: Es ist wie mit der Neutralität – lange Zeit sind wir mit dieser Haltung gut gefahren. In «Die Schweiz als Antithese» hat das Historiker Herbert Lüthy wunderbar als «die innere Logik der aussenpolitischen Enthaltsamkeit» beschrieben. Es gab also innenpolitische Gründe dafür, wie die Schweiz im Wachstum ihrer Strukturen und Institutionen bis ins 20. Jahrhundert hinein verfahren ist. Und ja, wir waren erfolgreich mit dieser Aussenpolitik, das lässt sich nicht bestreiten. Tatsache ist indessen auch, dass sich die Rahmenbedingungen unserer Aussenpolitik in den letzten hundert Jahren fundamental verändert haben.
Sollte die Schweiz also heute mehr tun?
Frei: Ja, selbstverständlich, und das hat mit dem veränderten Rahmen zu tun: Die Schweiz existierte für lange Zeit als loses Konglomerat von Talgenossenschaften und Städten, die darauf schauen mussten, zusammenzubleiben. Heute muss niemand mehr das Auseinanderfallen dieser Struktur befürchten. Natürlich können wir uns auch künftig aussenpolitisch enthalten, aber dann müssen wir bereit sein, früher oder später den Preis dafür zu bezahlen. Ich plädiere für ein erweitertes Verständnis von Souveränität: In einer wirtschaftlich, technologisch und rechtlich eng verflochtenen Welt bleiben wir nur dann bestmöglich selbstbestimmt, wenn wir international mitreden können. Kein nationalstaatliches, absolutes Souveränitätsverständnis also, sondern eines, das akzeptiert, dass nationalstaatliche Autonomie einer Vielzahl von An- und Einbindungen gewichen ist.
Widmer: Die Grundlage unserer Aussenpolitik unterscheidet sich stark von anderen Ländern. Es gibt nur ein Land, in dem das Volk in der Aussenpolitik mitreden kann: die Schweiz. Unser Staat ist von unten her aufgebaut, nicht von oben. Die Neutralität ist ein konstituierendes Element der Machtbeschränkung, so wie die direkte Demokratie, der Föderalismus und die Mehrsprachigkeit. Diese vier Elemente zielen darauf ab, die Macht der Elite zu beschränken. Aufgrund dessen haben wir eine vorsichtigere Politik als andere Länder.
Heisst das, dass wir uns auf die Schweiz beschränken sollten?
Widmer: Nein. Wir haben bereits im 19. Jahrhundert eine der offensten Aussenpolitiken gehabt, aber nicht im Sinne der Machtpolitik. Unser Ziel ist es nicht, die Macht und Herrlichkeit von Monarchen oder der EU zu stärken. Unser Ziel ist die grösstmögliche Freiheit des Bürgers. Und diese haben wir grösstenteils bewahren können. Wer hatte denn im 19. Jahrhundert die Idee vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, einer humanitären Initiative par excellence? Wer hat dafür gesorgt, dass es in Genf Plattformen für internationale Verhandlungen gab? Hätten wir uns zurückgenommen und isoliert, wäre Genf diese Rolle nicht zugefallen.
Frei: Nationalstaatliche Autonomie löst sich nicht auf, sie wird aber stark relativiert und ist heute kaum noch mehr als eine wohltuende Illusion. Paul Widmer sagt, dass die Neutralität ein konstituierender Teil eines Gefüges sei, das Macht einschränke. Ich bin auch hier anderer Meinung: Unsere Neutralität ist eine aussenpolitische Maxime, ein Instrument. Ihre ursprüngliche, wichtigste Funktion bestand darin, Kohäsion zu stiften. Ohne Neutralität, ohne aussenpolitische Abstinenz wäre die Schweiz wahrscheinlich auseinandergebrochen. Aber eben, jene Zeit war eine völlig andere.
Was sagen Sie zum Argument, dass die nationale Souveränität heute nicht mehr existiere?
Widmer: Sie hat in absoluter Form noch nie existiert. Hören wir auf, von diesem Phantom zu sprechen. Hat sie beim Wiener Kongress existiert, als man die Republik Genua per Federstrich in den Abfall warf? Unsere Welt war schon immer enorm verflochten, und wir werden immer interdependenter. Aber wir verfügen auch über Kompensationsmechanismen; einer dieser Mechanismen ist die Beteiligung des Volkes am Regierungssystem – und diese wird in immer mehr Ländern verlangt. Glauben Sie jedoch nicht, dass der souveräne Staat aussterbe. Eine Auflösung der nationalen Souveränität ist nirgends in Sicht.
Frei: Nationalstaatliche Autonomie löst sich nicht auf, sie wird aber stark relativiert und ist heute kaum noch mehr als eine wohltuende Illusion. Paul Widmer sagt, dass die Neutralität ein konstituierender Teil eines Gefüges sei, das Macht einschränke. Ich bin auch hier anderer Meinung: Unsere Neutralität ist eine aussenpolitische Maxime, ein Instrument. Ihre ursprüngliche, wichtigste Funktion bestand darin, Kohäsion zu stiften. Ohne Neutralität, ohne aussenpolitische Abstinenz wäre die Schweiz wahrscheinlich auseinandergebrochen. Aber eben, jene Zeit war eine völlig andere.
Was sind die Unterschiede?
Frei: Der klarste Unterschied ist nicht einmal die enorm gesteigerte wirtschaftliche Verflechtung, sondern die Entwicklung des Völkerrechts, das einst primär auf Koexistenz ausgelegt war. Seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch entwickelt sich ein Völkerrecht, das auf globale Kooperation ausgelegt ist und eine kollektive Sicherheit anstrebt. Als sich die Neutralität herausbildete, hatte jeder Staat das souveräne Recht auf Krieg. Heute sind wir in einer völlig anderen völkerrechtlichen Realität: 1928 wurde Krieg geächtet, seit 1945 ist er verboten.
Widmer: Dieses Schwarzweissbild teile ich nicht. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch war der Krieg geächtet. Und das heutige Verbot des Krieges funktioniert nicht. Eine Grossmacht hat ein Interesse an der kollektiven Sicherheit, die sie beherrschen kann –!an Neutralität ist sie nicht interessiert. Würde die kollektive Sicherheit funktionieren, hätte die Neutralität in der Tat keine Berechtigung mehr. Die Realität sieht aber anders aus. Seit die UNO existiert, gab es mehr als 100 internationale Konflikte. Jeder davon ist eine Legitimierung unseres neutralen Status.
Infolge des Ukrainekriegs ist eine Annäherung an die Nato in der Schweiz mehrheitsfähig geworden, wie die Studie «Sicherheit 2023» der ETH zeigt; zugleich befürworten weiterhin über achtzig Prozent der Schweizer die Neutralität. Sollte die Schweiz die Zusammenarbeit mit der Nato vertiefen?
Frei: Natürlich – sofern die Schweiz nur endlich bereit ist, von Lebenslügen Abstand zu nehmen, statt weiterhin daran festzuhalten, weil es sich besser anfühlt.
Widmer: Das Wort Lebenslüge müssen Sie erklären.
Frei: Zuletzt investierte die Schweiz weniger als 0,8 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in die Verteidigung. Zu behaupten, wir hätten eine bewaffnete Neutralität, ist eine Lebenslüge.
Widmer: Weshalb soll eine Erfolgsgeschichte sondergleichen eine Lebenslüge sein? Wir schafften es als erstes Land auf der Welt, die Neutralität als ein Element des Weltfriedens einzuführen. Den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie den Kalten Krieg haben wir solide überlebt. Positive Erfahrungen erzeugen üblicherweise Zuversicht. Doch unsere Neutralitätskritiker scheinen sich an anderen Gesetzmässigkeiten zu orientieren.
Frei: Das Mindeste, was man von der heutigen Schweiz erwarten würde, ist, dass sie sich an den Kosten, die für den Schutz ihrer Sicherheit auflaufen, angemessen beteiligt. Das tut sie nicht, und das halte ich für zynisch. Längstens schützen ja andere die Grundlage unseres guten Lebens.
Die logische Konsequenz wäre, der Nato beizutreten.
Frei: Ein Beitritt ist politisch auf lange Sicht hinaus nicht möglich. In der Sache wäre er nur konsequent.
Die USA fordern von Deutschland und Frankreich, 2 Prozent ihres BIP für die Verteidigung auszugeben.
Frei: Wir bräuchten mindestens 25 Jahre, um die Fertigkeiten und Fähigkeiten, die wir unter Einziehen der sogenannten Friedensdividende haben fallenlassen, wiederzugewinnen. Ich zweifle stark daran, ob wir den politischen Willen aufbringen, diesen Weg in aller Konsequenz zu gehen.
Geopolitik wird von Grossmächten dominiert. Wie sollte sich die Schweiz im Licht des verschärften Wettbewerbs zwischen den USA und China positionieren?
Widmer: Es gehört zu unserer Aussenpolitik, dass wir uns zurückhalten und uns nicht einbilden, wir seien der Richter von allem. Wahrscheinlich werden in Zukunft immer mehr Länder nicht mehr in Blöcke eingebunden sein. Eine Neutralität, die sich lange auf eine konsequente Politik abstützen kann, ist glaubwürdiger als eine, die sich auf die eine oder andere Seite eines Konflikts stellt.
Frei: In der Aussenpolitik geht es um Interessen, nicht um Wahrheit. Interessen lassen sich ausgleichen, Werte nicht. Wir sollten mit China nicht nur im Geschäft, sondern auch konsequent im Gespräch bleiben. Zusammen mit Singapur ist die Schweiz einzigartig positioniert, um die Rolle einer glaubwürdigen Vermittlerin einzunehmen.
Grundsätzlich: Welches Bild der Schweiz in der Welt haben wir? Sind wir nun ein Kleinstaat oder doch kein Kleinstaat? Wollen wir zu den G20 gehören oder wollen wir der grösste der K180 sein? Oder gar der U1 – der unabhängige Exzentriker unter den Nationen?
Widmer: Das ist eine irrelevante Frage. Das Wesentliche für uns ist, dass wir einen freiheitlichen Staat haben wollen, an dessen Geschehen sich der Bürger im grössten Masse beteiligen kann. Das ist ein Element, das auch in der Aussenpolitik zur Geltung kommen muss. Wir sollten nicht einer Ideologie nachrennen, wie man sie in der EU antrifft, die der dritte Player in der Welt sein will.
Frei: Die Hälfte aller Staaten der Welt hat weniger Einwohner als die Schweiz. Wirtschaftlich gehören wir zu den zwanzig grössten Mächten der Welt. Dennoch lässt sich die Idee, wir seien ein Kleinstaat, nicht aus den Köpfen bringen. Dasselbe gilt für die Neutralität. Was identitär oder tiefenkulturell verankert ist, lässt sich nicht mit einem Federstrich anpassen – auch wenn Anpassungen überfällig wären.
Quelle: Schweizer Monat