Sehr geehrte Damen und Herren,
vielleicht sind Sie erstaunt, an Ihrer Versammlung einen Altlinken als Redner zur Neutralitätsinitiative vor sich zu sehen. Nun ist die Neutralität zwar ein überparteiliches Thema. Oder sollte das wenigstens sein. Als jedoch die Initiative vor einem Jahr eingereicht wurde, wurde sie von den Schweizer Leitmedien sofort als «Putin Initiative» oder als «Blocher Initiative» abgewertet. Das waren Versuche, die Initiative von Anfang propagandistisch zu verunglimpfen, und zudem eine parteipolitische Abrechnung ohne Diskussion zur Sache. Das hat mich als Politologe und als Staatsbürger empört. Denn lebenslang habe ich meinen Studierenden gesagt: In der Schweiz werden die wichtigsten nationale Fragen in der Verfassung geregelt. Und bevor es dazu kommt, entscheidet die Stimmbürgerschaft in einer ernsthaften und sachorientierten Diskussion. Deshalb engagiere ich mich heute für die Neutralitätsinitiative mit Gründen, die nicht nur den konservativ Gesinnten, sondern auch den Liberalen, den Linken und Grünen einleuchten sollten.
Zur Sache.
Während Jahrzehnten war die schweizerische Neutralität etwas so Selbstverständliches, dass kaum darüber geredet wurde. «Wir sind ein neutrales Land», das lernte jedes Kind. Aber inzwischen wissen viele kaum, was das bedeutet. Weder die Kinder noch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Selbst einzelne Mitglieder des Bundesrats scheinen von der Neutralität keine grosse Ahnung zu haben. Sonst hätte Bundesrat Cassis nach Ausbruch des Ukrainekriegs im Frühling 2022 nicht sämtliche Sanktionen der EU gegen Russland Wort für Wort übernehmen und gleichzeitig erklären können, wir seien weiterhin neutral. Das Ausland reagierte prompt. Sowohl der amerikanische Präsident Biden wie der russische Präsident Putin erklärten in seltener Übereinstimmung: die Schweiz ist kein neutraler Staat mehr. An der Bürgenstock-konferenz wurde Selenzky als Gast hofiert, Putin dagegen nicht eingeladen. Und neuerdings bereiten einige Militärs ernsthaft das Konzept eines Schweizer Detachements mit Helikoptern für Einsätze im Ausland vor.
Neutralität, so frage ich: Wer glaubt heute noch an sie?
Zwei wichtige Lehren für uns:
Die erste: Es reicht nicht, wenn wir selbst an die Neutralität glauben. Neutralität muss vor allem gegen aussen glaubwürdig sein. Diese Glaubwürdigkeit hat der Bundesrat in den vergangenen drei Jahren leider ein Stück weit verspielt.
Deshalb will die Neutralitätsinitiative jetzt die Neutralität und ihre Grundzüge in der Verfassung verankern. Ich halte das für gut und vernünftig. Denn die Initiative legt die wesentlichen Aspekte unserer Neutralität nun sichtbar gegen innen und gegen aussen als Grundsatz der Aussenpolitik fest. Damit wird sie ein Stück weit dem kurzfristigen Denken von Politikern und einzelnen Bundesräten entzogen. Vor allem aber stärkt sie einer glaubwürdigen und verlässlichen Aussenpolitik den Rücken. Das schützt sie auch gegen Druckversuche von aussen, wie wir sie gerade jetzt erfahren.
Die zweite Lehre. Sie betrifft die Frage: Was ist Neutralität? Nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs riefen nicht nur unpolitische Bürgerinnen, sondern auch gestandene Politiker mit entrüsteter Stimme: «Wie können wir neutral bleiben, wenn ein grosses Land ein kleines Land überfällt? Wie kann man noch von Neutralität reden, wenn Russland ein völkerrechtliches Verbrechen begeht und Tausende von unschuldigen Ukrainern zu Kriegsopfern macht?»
Die Empörung war weit verbreitet und liess keinerlei Diskussion zu. Dieses Mitgefühl ist menschlich und verständlich. Aber die Neutralität ist eben kein Sympathieartikel, keine Angelegenheit des Herzens, sondern der Grundsatz einer Aussenpolitik. Er lautet: die Schweiz bleibt unabhängig, beteiligt sich nicht an Kriegen und hilft mit, gewaltsame Konflikte auf friedlichem Weg zu lösen. Die Idee des Friedens, nicht persönliche Moral, ist das ethische Fundament der Neutralität. Zudem soll Neutralität die Einigkeit des Volkes im Innern bewahren. Das hat uns der Schriftsteller Carl Spitteler in seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt» vor mehr als 100 Jahren gelehrt. Damals, bei Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914, lagen die Sympathien der Deutschschweizer beim deutschen Kaiserreich. Das Herz der Romands dagegen schlug mit den Franzosen. Spitteler nun appellierte, diese einseitigen Sympathien zurückzustellen. Denn wenn Deutschschweizer und Romands der Stimme ihres Herzens folgten, würde käme es zur Spaltung der Schweiz, und zum Ende der Neutralität. Mehr noch: eine gespaltene Schweiz könnte in den Krieg hineingezogen werden. Spitteler rief deshalb dazu auf, den eigenen, unabhängigen und neutralen Standpunkt zu bewahren.
Wenn Krieg ist, bleibt der Neutrale unparteilich gegenüber den Kriegsführenden. Das hat die Schweiz im ersten wie im zweiten Weltkrieg und auch im Kalten Krieg versucht, nicht immer mit Erfolg, aber dennoch ist sie der Neutralität treu geblieben. Selbstverständlich haben wir alle unseren persönlichen Sympathien und Antipathien, aber staatspolitisch unterscheidet die neutrale Schweiz nicht zwischen «guten» und «schlechten» Staaten. Der einstige US-Präsident Bush dagegen hat das mit seiner «Achse des Bösen» getan. Seine in Meinung war: «Wer für uns ist, ist ein guter Staat, wer gegen uns ist, gehört zu den Schurkenstaaten». Diese Einteilung der Welt in die «Guten» und die «Bösen» ist das genaue Gegenteil von Neutralität.
Unparteilichkeit vertritt auch das IKRK. Denn ohne gleiche Distanz zu den Kriegsparteien – zu den «guten» wie zu «schlechten» – könnte es seine humanitären Aufgaben nicht leisten. Wie das IKRK zeigt, bedeutet Unparteilichkeit nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltgeschehen. Denn trotz ihrer Neutralität hat die Schweiz im humanitären Bereich Bedeutendes geleistet. Das begann 1871 mit der Aufnahme der 80’000 geschlagenen Soldaten der Bourbaki Armee im Jura, mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in den Weltkriegen, aus Ungarn 1965 und jetzt mit den 70’000 Flüchtigen aus der Ukraine. Humanitäre Hilfe und die staatspolitische Vernunft der Neutralität schliessen sich also nicht aus. Das lässt sich auf eine eingängige Formel bringen: Ja zur Solidarität mit den Kriegsopfern auf beiden Seiten, aber Nein zur Solidarität mit einer Kriegspartei.
Ein heisses Eisen im Abstimmungskampf wird unser Verhältnis zur NATO sein. Die geopolitische Lage ist unsicher. Die europäischen Länder rüsten militärisch auf, und so auch die Schweiz. Da denken viele: Wir sollten uns unter den Schutzschild der NATO stellen. Ich finde das eine schlechte Idee.
Erstens ist dieser Schutzschild nicht gratis. Als Mitglied der Nato hätten wir statt der Neutralität Bündnispflichten. Die NATO-Satzungen verlangen im Artikel 5 die Unterstützung durch die anderen Mitglieder, falls ein Land sich angegriffen fühlt. Das würde selbstverständlich auch für unser Land gelten. Das ist noch nicht alles.
Denn zweitens ist die NATO längst kein blosses Verteidigungsbündnis mehr. In Afghanistan, Serbien, Libyen führte sie Krieg oder sie war daran beteiligt – teils sogar völkerrechtswidrig.
Die NATO ist der militärische Arm geworden, der unter Führung der USA die Vorherrschaft des Westens und seiner wirtschaftlichen Interessen sichern soll. Und das alles weit über Grenzen Europas hinaus. «Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte 2004 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck. Doch statt Sicherheit und Demokratie hinterliessen diese Interventionen ein politisches Chaos und zusätzliche Flüchtlingsströme nach Europa. Sollen sich unsere Kinder und Enkel einst tatsächlich an solchen Abenteuern beteiligen?
«Der Linder malt den Teufel an die Wand», werden NATO-Freunde sagen. «Wir wollen gar nicht Mitglied werden, sondern mit der NATO bloss in technischen Belangen zusammenarbeiten». Das tönt zunächst vernünftig und findet längst statt, bei den Fliegern, bei der Luftraumsicherung und in vielen weiteren militärischen Bereichen. Aber wo sind die Grenzen? Bei gemeinsamen Manövern, bei gemeinsamen Führungsstäben, bei Truppenkontingenten für die NATO? Wo sind jene Grenzen: jene roten Linien, die unvereinbar sind mit der Neutralität? Damit könnte es uns ergehen wie mit der EU: Wir sind zwar nicht Mitglied, erfüllen aber die Vorschriften und Erwartungen Brüssels getreuer als manches EU-Mitglied. Und unsere Behörden könnten den Bündnisfall mit der NATO durchaus als Marschbefehle für schweizerische Truppenkontingente auslegen, unter Berufung auf die ausserordentliche Lage und eine «flexibilisierte» Neutralität.
Die ehrliche Antwort aber lautet: Wir können nicht beides haben, NATO und Neutralität. Wir müssen uns entscheiden, auch wenn’s schwerfällt: NATO oder Neutralität.
Heisse Köpfe auch beim Thema Sanktionen. Das sind einseitige Zwangsmassnahmen, die ein Staat, eine Staatengruppe oder die UNO gegen einen anderen Staat ergreift. Sanktionen werden immer häufiger, manche sprechen inzwischen von einer eigentlichen «Sanktionitis». Nicht wenige dieser Sanktionen verstossen gegen das internationale Recht und sind unerlaubte Strafmassnahmen der Mächtigeren gegen die Schwächeren. Die Initiative verlangt nun, dass die Schweiz nur bei jenen Sanktionen mitmacht, die von der UNO beschlossen werden. Der Grund ist einfach. Es sind die einzigen Sanktionen, die von der gesamten Staatenwelt getragen werden, im Gegensatz etwa zu den Russland-Sanktionen der EU, die in anderen Teilen der Welt umstritten sind. Als Mitglied der UNO ist Schweiz zur Befolgung nichtmilitärischer Sanktionen völkerrechtlich verpflichtet. Zudem trifft sie Massnahmen, die verhindern sollen, dass nichtmilitärische Zwangsmassnahmen anderer Staaten umgangen werden. Grund ist: dem Vorwurf der Kriegsprofiteurin sollte sich unser Land nicht aussetzen.
Was ist davon zu halten?
Zunächst ja: Sanktionsverzicht kann den aussenpolitischen Spielraum einschränken. Von einer Knebelung der Schweizer Aussenpolitik zu sprechen, ist allerdings blanker Unsinn. Denn gleichzeitig erweitert der Sanktionsverzicht die handelspolitischen Möglichkeiten. Wir halten damit die Wirtschaftsbeziehungen auch mit jenen Ländern intakt, die z.B. mit Sanktionen der USA gegen Iran nicht einverstanden sind.
Noch wichtiger sind die folgenden, grundsätzlichen Argumente gegen Sanktionen:
- sie treffen nicht die fehlbaren Regierungen, sondern das Volk
- am meisten betroffen sind stets die armen Bevölkerungsschichten
- die betroffene Bevölkerung solidarisiert sich mit der sanktionierten Regierung
- Sanktionen verlängern den Konflikt
- Sanktionen führen höchst selten zu einem Regimewechsel.
Ein Beispiel? Nehmen sie Kuba. Die USA unterhalten umfassenden Sanktionen gegen das Regime des kleinen Nachbarn, das ihnen nicht gefällt. Nach 60 Jahren ist das Regime nicht gestürzt. Und trotz Verarmung gibt’s keine Zeichen, dass die Bevölkerung ein anderes Regime will. Der Konflikt zwischen USA und Kuba bleibt ungelöst, weil keine Verhandlungen über einen nachbarlichen Frieden der beiden Parteien stattfinden.
Kurz: Sanktionen folgen der Kriegslogik, nicht der Friedenslogik.
Der letzte, aber wichtige Punkt der Initiative betrifft das Thema Frieden. Unsere Neutralität soll ausdrücklich, so der Initiativtext, der Erhaltung und Förderung des Friedens dienen. Die Schweiz steht als Vermittlerin zur Verfügung. Das ist mehr als ein frommer Wunsch. Die Schweiz hat gerade nach dem 2. Weltkrieg eine ganze Reihe von Vermittlungstätigkeiten initiiert, organisiert oder im Namen internationaler Organisationen geführt. Ich nenne einige wenige davon:
- Die schweizerisch/schwedische Mission zur Überwachung des Waffenstillstands zwischen Nord- und Südkorea (seit 1953)
- Die Organisation der Friedenskonferenz von Evian, die Frankreich und Algerien an den Verhandlungstisch brachte und zum Ende eines der blutigsten Kolonialkriege führte (1962)
- Die Vermittlung zwischen Russland und Tschetschenien (1997ff)
- Der Untersuchungsbericht des Kriegs zwischen Georgien und Russland 2008 im Auftrag des Ministerrats der EU. Der Schweizer Bericht ist einer jener seltenen, die von beiden Konfliktparteien anerkannt wurde.
- Die Minsker -Abkommen (2014/15)
- Die vielen Initiativen in der OSZE, vor und in der Amtszeit des Schweizer Generalsekretärs Botschafter Greminger (2017-2020)
Darüber hinaus hat sich Genf als ein Zentrum internationaler Diplomatie entwickelt. So ist die Schweiz Depositarstaat von gegen 80 internationalen Vereinbarungen, gegenüber deren 20 von Deutschland.
Das sind Leistungen der Schweizer Diplomatie, die wenig beachtet oder heute gerne kleingeredet werden. Freilich blieben viele Friedensbemühungen ohne Erfolg. Doch Frieden machen ist eine anspruchsvolle Kunst. Ihr Erfolg hängt von der Bereitschaft der Parteien ab, tatsächlich Frieden zu schliessen. Und ohne glaubwürdige Unparteilichkeit der Vermittler geht das nicht. Zwar ist die Schweiz beileibe nicht der einzige Akteur, der Friedensverhandlungen führen kann. Aber dank der Neutralität genossen bislang die Schweizer VertreterInnen mehr als andere das Vertrauen, beide Konfliktparteien unparteiisch und gleich zu behandeln.
Sind all diese Überlegungen noch etwas wert in einer Zeit geopolitischer Umwälzungen, in denen mit China und Indien, den BRICS-Staaten und in ferner Zukunft auch Afrika neue Machtblöcke entstehen? Richtig, Europa wird künftig nicht mehr das Zentrum der Welt sein – weder wirtschaftlich noch politisch. Aber auch unsere Neutralität kann nicht mehr an den Grenzen Europas halt machen. Sie muss auch glaubwürdig sein für China, für Indien und gegenüber allen Südländern. Und sie muss zudem glaubwürdig sein gegenüber Ländern mit anderen Religionen oder Nicht-Demokratien, unter denen derzeit Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben.
Mit anderen Worten: Unsere Neutralität hat sich in Zukunft global zu bewähren.
Selbstverständlich sind und bleiben wir Europäer. Das heisst aber nicht, dass wir uns den Machtansprüchen des transatlantischen Bündnisses und seiner monopolaren Weltordnung unterwerfen. Richtschnur ist vielmehr die Friedenscharta der UN, die von allen Staaten den Verzicht auf Krieg, aber auch auf kriegerische Bedrohung verlangt. Will die Schweiz künftig zum Weltfrieden beitragen, so hat sie aufzustehen gegen Verletzungen des UN-Friedensrechts, und zwar gegen die Verletzungen von allen Seiten. Eine solche Neutralität ist eine Herausforderung und mag politisch unbequem sein. Indessen: Ihre wirtschaftspolitischen Vorteile liegen auf der Hand, etwa dann, wenn wir uns im Handelskrieg zwischen den USA und China nicht auf die eine Seite schlagen.
Es ist keineswegs nationaler Egoismus, wenn eine faire Aussenwirtschaftspolitik auch die Interessen der nicht-westlichen Staaten und von Entwicklungsländern ernst nimmt. Es dient dem Ausgleich zwischen armer und reicher Welt, ohne den es überall auf der Welt keinen dauerhaften Frieden geben kann.
Die heutige Weltlage ist unerfreulich. Zwischen den USA und China droht ein Handelskrieg, und derzeit wird weltweit und massiv aufgerüstet.
Wenn das internationale Recht von einem Staat nur noch beachtet wird, wenn es ihm gerade nützt, dann landen wir in einer Staatenwelt, worin der Freund von heute zum Feind von morgen werden kann. Und die Welt würde vermutlich friedlicher, wenn mehr Staaten sich dem Machtbereich der grossen Imperien entziehen würden.
Darum: Neutralität hat Zukunft!
Die schweizerische Neutralität und ihr Festhalten an verlässlichen Grundlagen des Völkerrechts dient nicht nur der eigenen Sicherheit und dem inneren Frieden im eigenen Land. Sie kann zudem einen bescheidenen Beitrag für eine friedlichere Welt leisten.